Zeit der Medien — Medien-Zeit?

Medien gleich welcher Art haben die Funktion raum-zeitliche Distanzen zu verkleinern. Mit der Entwicklung der Moderne und der kapitalistischen Produktionweise revolutionierten die neuen Bewegungs- und Kommunikationsmedien, beginnend mit der Eisenbahn und der Telegraphie, die bis dahin prägenden raumzeitlichen Vorstellungen. Das seit der Antike gültige Zeitmaß der Bindung von Zeit an Körper und Natur verliert mit der Industrialisierung seine Basis. An die Stelle zyklischer Zeitvorstellungen tritt ein lineares Zeitbewußtsein, geprägt durch eine immer stärkere Dominanz der Zeit über dem Raum.

"Zeit überwindet Raum" wird zum Movens der technologischen Entwicklung. Immer neue und schnellere Bewegungs- und — in zunehmenden Maße — elektronische Kommunikationsmedien sind zugleich Ausdruck und Triebkraft dieser Dynamik. Enträumlichung und Beschleunigung sind zwei Seiten dieser Entwicklung.

Mit der Herausbildung der neuen audiovisuellen Kommunikations- und Informationsmedien in den 80er und 90er Jahren unseres Jahrhunderts hat die Beschleunigung eine neue Qualität erreicht, die alle vorherigen Zeitrhythmen bedächtig und langsam erscheinen läßt. Die Beschleunigung ist so rasant geworden, daß Zeit zusammenschrumpft auf den Augenblick. Alles wird Jetztzeit und Echtzeit. Der Raum ist endgültig überwunden und alles findet gleichzeitig in der Gegenwart statt. Dadurch verschlingt die "Gegenwart die Zukunft" (Helga Nowotny). Das mediale Zusammenschnurren räumlicher Entfernungen auf Nahverhältnisse und die hergestellte Gleichzeitigkeit durch die Gegenwärtigkeit von Vergangenheit und Zukunft steigert sich in der Entwicklung von der Photographie über Film und Fernsehen bis zur Computersimulation und den neuen Medien.

Mit Multimedia und den neuen Telekommunikationsmedien wandeln sich die Wahrnehmungsformen und das gewohnte Raum-Zeitverständnis als Grundkoordinaten der alltäglichen Erfahrungswelt und damit auch die Grundlagen von Erinnerung und Geschichtsbewußtsein.

So groß die Übereinstimmung in Sozial- und Medienwissenschaften, Philosophie und Naturwissenschaften bei der Einschätzung der Auswirkungen der neuen Medien auf das Zeitbewußtsein ist, so gegensätzlich ist deren Bewertung. Nirgends scheint die Polarität zwischen "Apokalyptikern und Integrierten" (Umberto Eco) so gravierend zu sein wie bei den neuen Kommunikations- und Unterhaltungsmedien und ihren Einfluß auf die raumzeitlichen Wahrnehmungen. Wo die einen die letzten Basitionen raumzeitlicher Beschränkungen des Daseins im Cyberspace aufgehoben sehen, befürchten andere den aus dem Raum gefallenen Menschen ohne Herkunft und Zukunft.

Jenseits dieser oberflächlichen polarisierten Parteinahme bleiben oft die realen Veränderungen raumzeitlicher Wahrnehmungsmuster durch die Medienentwicklung außer Acht. Als netzwerkartig, diskontinuierlich und den neuronalen Strukturen des Gehirn ähnlich werden mediengeprägte Zeitkonstruktionen bezeichnet. Zeitmosaik anstelle von Zeitfluß, individuelle Zeitmuster und reflexive Zeitstrukturen charakterisieren Medienzeit in der Zeit der Medien.

Übersicht
Die Veranstaltungs- 
reihe
Mediale Temporalitäten im Internet
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Medium und Intervall: Vom Buch zum Computer
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Zeitsprünge und Zeitmosaik im neueren Kino
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Zeitpraktiken
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Dr. Mike Sandbothe Prof. Dr. Götz Großklaus Georg Sesslen Dr. Daniela Ahrens
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