Zeitsprünge und Zeitmosaik im neueren Kino.

Eine Analyse innerer Zeitstrukturen und Zeitbilder in modernen Filmen am Beispiel von David Lynch
 

Georg Sesslen 
 

Abstract
Der Autor zeichnet in seinem Beitrag die Auflösung von linearer Zeit, dem jetztzeitigen Raum, von Identität und Biographie in David Lynchs Filmen, insbesondere in Lost Highway nach. Es wird deutlich, dass sich Lynch wie andere auch nicht nur vom klassischen Erzählkino und von der Einheit von Story und History, der Einheit von Bild und Idee verabschiedet hat, sondern selbst eine Wirklichkeit zwischen Traum und Realität zu konstruieren bemüht ist.
 

Zeitsprünge und Zeitmosaik im neueren Kino.

Eine Analyse innerer Zeitstrukturen und Zeitbilder in modernen Filmen am Beispiel von David Lynch

Eine Kultur, wie die unsere,  ist in hohem Maße davon abhängig, wie sie mit den Bildern umgeht, eigenen und fremden Bildern, Bildern vom Eigenen und Bildern vom Fremden. Und in der Art, wie wir Bilder produzieren und wie wir sie sehen, ist ganz offensichtlich im letzten Jahrzehnt einiges geschehen, wofür wir noch keinen rechten Begriff haben, und was uns in einem merkwürdigen Zustand von Panik und Euphorie versetzt. Das Wort Postmoderne geistert dazu durch die Diskussionen, und ich will versuchen, zu diesem Wort ein wenig Hintergrund zu skizzieren, wenn auch in einem sehr speziellen Blickwinkel, aus dem vom postmodernen Kino auf David Lynch und die Idee der Zeit fokussiert werden kann. Nur auf den ersten Blick mag es dabei sonderbar erscheinen, daß man, wenn man wie ich für eine Ökologie der Bilder plädiert, einen demokratischen, sanften und nachhaltigen Umgang der Bilderindustrie mit ihrem Material, ausgerechnet den Weg über jene Postmoderne wählt, der man so gern fahrlässigen, kannibalistischen oder wenigstens effekthungrigen Umgang mit dem Bildmaterial nachsagt, um zu einer höchst zweifelhaften Epiphanie des Künstlichen und der unbarmherzigen Vermischung des Erhabenen und des Trivialen zu gelangen. Aber hören wir ausnahmsweise auf Arthur Schopenhauer, sehen wir, bevor sich der Eindruck versteinert, genauer hin.

Wir müssen wohl zunächst einmal von einem Naturrecht des Menschen ausgehen, sich Bilder von der Welt zu machen, in der er lebt, und vielleicht sogar Bilder, die über diese Welt hinausweisen. Und es ist klar, daß diese Bilderproduktion immer auch soziale Schwierigkeiten bereitet, weil wir auch immer Bilder des Bösen, Bilder der Angst und des Verdrängten produzieren, Bilder, die anderes sagen, als das, was wir uns selber gutes nachsagen möchten. Dabei ist es sozusagen eine innere Notwendigkeit der bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft, die Bilder in Bewegung zu versetzen. Erst das in Bewegung versetzte Bild entzieht sich dem eindeutigen Besitz, ist demokratisch verteilbar und schafft dabei zugleich beständig Mehrwert und Profit. Es ist zu klären, wem der Isenheimer Altar, die Alexanderschlacht oder auch Beuys kleine Zeichnungen gehören. Aber wem gehören die Bilder der letzten „Lindenstraße“-Folge? Sie gehören uns irgendwie allen, und sie rechnen sich. Aber niemand hängt sie sich an die Wand. Die Bilder in Bewegung zu versetzen bedeutet also wohl zugleich ihre Demokratisierung und ihre Entwertung. Die Geschichte unserer Kultur reicht von dem Punkt, an dem das Bild privilegierter Besitz weniger und Ausdruck weltlicher und geistlicher Herrschaft möglichst für die Ewigkeit war zum mittlerweile verbreiteten Gefühl einer durchaus bedrohlichen Allgegenwärtigkeit der Bilder. Notwendig also gibt es den Punkt, an dem der Kampf um die Bilder umschlagen mußte in den Kampf gegen die Bilder, die, einmal in Bewegung versetzt, sich immer weiter beschleunigen und sich gleichzeitig immer weiter entwerten mußten. Die Moderne, in der Malerei wie im Film, ist nichts anderes als eine ästhetische Strategie der Bilderverweigerung, Bilderzerstörung oder Bilderreflexion. Aber Werbung und Entertainment kannibalisieren und trivialisieren noch die widerständigste Bilderwelt. Vor den United Colors of Benetton ist Paul Klee so wenig sicher wie der Krieg in Bosnien. Der Regisseur Giuseppe Tomatore sagt wohl zu Recht, daß die Kunst des Filmemachens heute viel weniger darin bestehe, Bilder zu finden, als vielmehr darin, die falschen Bilder zu vermeiden. Die Bewegung der Moderne im Kino, von Ozu, von Dreyer, von Bresson oder von Jean-Marie Straub ist vor allem eine Form der Bild-Askese, ein Kino der Verweigerung symbiotischer Illusion, oder ein Kino der Verfremdung, der Desillusionierung, von Godard bis Alexander Kluge. Das heißt, nebenbei, auch ein Kino, das mir sagt, daß die Kino-Zeit und meine Lebenszeit nicht identisch, nicht einmal synchron sind.

Schließlich spiegelt sich in der Teilung zwischen moderner Kunst und popular culture, zwischen Avantgarde und Unterhaltung, neben vielem anderen auch unser zwiespältiges Verhältnis zu den Bildern.  Während die popular culture sie unentwegt und sozusagen am Fließband produziert und in Bewegung versetzt, kann die sich als modern und aufklärerisch verstehende Kunst nur das Extrem suchen, sie so absurd zu beschleunigen, daß sie sich selber vernichten, zum Beispiel in der Form des Happenings oder der Performance, oder zu einem vollständigen Stillstand zu bringen, in der Abstraktion, in der Übermalung, im Endpunkt aller Moderne, der totalen Negation des Bildes, der weißen Leinwand oder der Leinwand, die allein sich selber zum Thema hat. Wir sehen schon hier, daß die Ästhetik der Bilder im Kampf zwischen Moderne, Nostalgie, Mainstream und Avantgarde viel weniger damit zu tun hat, was sie abbilden dürfen, als damit, was sie mit unserer Empfindung, mit dem Raum, der Person und vor allem mit der Zeit anstellen. Das erzählerische und bildnerische Material ist ausgesprochen begrenzt, es gibt um Grunde nur gerade einmal zwölf Grundgeschichten, die in allen Kulturen und allen Zeiten immer wieder erzählt werden, und noch weniger variabel ist die Funktion der Helden oder Heldinnen, the hero with a thousand faces ist am Ende doch immer wieder der gleiche, the heroine die gleiche, das Kind, das Prüfungen bestehen muß, um zum Erwachsenen zu werden, der Erlöser, der als Wandernder die Lücken und Widersprüche bestehender Gruppen füllt, Kain und Abel, die sich gegenseitig zu Mördern werden. Daß wir uns die im Grunde immer gleichen Geschichten erzählen, ist so lange kein allzu großes Problem, als die Art, wie diese Geschichten erzählt werden, sich weiter zu entwickeln vermag, und solange, als die Verfassung einer Gesellschaft der Produktion ihrer Erzählungen entspricht. So war, über gut fünfzig Jahre hinweg, das Genre-Kino, sowohl in Hollywood als auch in den europäischen Cinematographien, eine Instanz, genau diese Bildergeschichten zu erzählen, die den Gleichklang von Individuum und Gesellschaft, zwischen Story und History erzielten, manchmal auch auf bizarren Umwegen. The Manufactoring of Consense, wie Noam Chomsky das nennt, war möglich, weil die Kinobilder in einer sehr komplizierten Weise das Einfachste anstrebten, die Synchronität der Träume. Nirgendwo sonst, von einigen populistischen Inszenierungen von Kirche und Politik abgesehen, darf man sich zugleich so als Individuum und als Kollektiv erfahren. Doch in den siebziger Jahren war das Kino in eine weltweite Krise geraten, unter anderem weil das Fernsehen eine noch perfektere Konsensmaschine wurde. Zum ersten mal breitete sich auch so etwas wie eine Ratlosigkeit aus gegenüber dem Umstand, daß alle Geschichten schon erzählt worden sind, ja wie Peter Bogdanovich damals sagte, "alle guten Filme schon gedreht sind".  Die Kinogeschichte verlor also ihre Selbstverständlichkeit, ihre Unschuld, wenn man so will.  Und das Medium reagierte darauf mit einer Hysterisierung der eigenen Mittel. Das bedeutete nicht nur ein enormes Potential von Sex und Gewalt, das Verschwinden einer verläßlichen Moral in den bewegten Bildern, es bedeutete auch, daß die Medien der Erzählung, der Raum, die Person der Helden und schließlich die Zeit sichtbar wurde, wie in Anführungszeichen gesetzt. Was vorher sozusagen in Realzeit aufgenommen war, sagen wir das Revolverduell in einem Western, wurde nun zerdehnt, in hundert Perspektiven aufgelöst, in Zeitlupe versetzt oder umgekehrt, extrem beschleunigt. Man kann wohl sagen, daß in diesen siebziger Jahren das Kino in eine Phase trat, in der die Zeit zu einem zentralen Thema wurde. Und dieses wohl nicht einfach nur aus Gründen, die in der Entwicklung des Mediums selber lagen, sondern auch durch einschneidende Erfahrungen der Gesellschaft. Die Kritikerin Pauline Kael sprach damals nicht zufällig von der Vietnamisierung des amerikanischen Films, und tatsächlich gab dieses Kino in vielem sehr direkt die Wahrnehmung von Soldaten in einem Krieg wieder, in dem es kein gegliedertes Schlachtfeld gab, in dem der Gegner kein wirkliches Bild produzierte, in dem die Wahrnehmung stark von Drogen geprägt war, und in dem technische Hochrüstung und schiere Archaik immer wieder aufeinander trafen (oder es gab jedenfalls unsere Vorstellung von einem solchen Krieg wieder, eine Vorstellung, die auch einen Polizeiknüppel auf dem eigenen Kopf bedeuten konnte). Dieser Krieg also löste in der amerikanischen und, damit verbunden, in der globalen Unterhaltungsindustrie einen Schub von Auflösung und Beschleunigung aus, gegen den erst ein Jahrzehnt später eine Art der nostalgischen Rekonstruktion epischer Erzählformen entwickelt wurde. Um es einmal dramatisch auszudrücken: Erst Steven Spielberg heilte die Wunden, die der Vietnamkrieg in der Erzählform des Hollywoodkinos hinterlassen hatte. Und auf unserer Seite des Ozeans zerfiel das Kinobild in Fassbinders Verzweiflungstaten und Schulmädchenreports andererseits, beides gleich entfernt von einer konsensfähigen und verbindlichen Erzählung.

Nicht zufällig wurde zu dieser Zeit aus dem altmodischen Wort Abenteuer das neue Wort Action. In diesem beschleunigten Kino geht es nicht so sehr darum, daß die Helden unter Zeitdruck gesetzt werden - das geschieht, seit es das Kino, seit es die populäre Erzählung gibt. Was geschieht ist vielmehr, daß Zeit mit allen dem Medium zur Verfügung stehenden Mitteln sichtbar und spürbar gemacht wird, und zwar auf eine nicht-symbiotische Weise. Das Kino von Action und Effekt ist eine Art Achterbahn der Welt-Erfahrungen, Entscheidungen zwischen Flüchten und Standhalten, Kino-Zeit als rauschhafte Verzerrung von Lebenszeit. Es gelingt der Bilder-Erzählung nicht mehr, individuelle und soziale Zeiterfahrung in Einklang zu bringen.

Nun ist das Bildermachen und das Bilder-in-Bewegung-versetzen nicht bloß einfach ein Zeitvertreib dazu besonders begabter Menschen, es ist auch nicht schieres Privileg von Sonderkulturen, sondern konstituiert das mythische Zentrum jeder Gesellschaft. Ebenso wenig, wie der Mensch darauf verzichten kann, sich zu ernähren, kann er darauf verzichten, sich Bilder zu machen. Ein Mensch ohne Bilder muß sterben, genau wie ein Mensch ohne Nahrung sterben muß, und nicht sehende Menschen sind keineswegs bilderlose Menschen. Die beste und genaueste Kritik zu Jean-Luc Godards Film "Nouvelle Vague" hat ein Blinder geschrieben. Und sein Medium für die Rekonstruktion der Bilder war vor allem die Zeit, Beschleunigung und Verlangsamung in den Dialogen, in den Geräuschen und in der Musik. Daß dieser Kritiker genauer war als Sehende, bedeutet also, daß wir Bilder auch hören, lesen, tasten, so wie wir auch Bildfolgen in Musik oder in Texte übersetzen. Die klassische mythische Erzählweise des Films machte sich diesen Effekt zunutze, indem sie eine völlige Einheit behauptete. Man pflegte den unsichtbaren Schnitt, die unhörbare Musik, die unsichtbare Kamera usw. Und das ganze ergab einen Film, dem man nicht ansah, daß es nicht die verbesserte Wirklichkeit, sondern ein technisch hergestelltes Abbild war. Auftritt moderner Film, der gerade dies zu seinem Anliegen macht. Mal mit Sigmund Freud, mal mit Bert Brecht, immer aber gegen eine Illusionsmaschine, die vorgibt, genauso bewußtlos und naiv zu sein wie ihr Publikum. Beschleunigung oder Verzögerung konnte in dieser Situation zu einem Mittel des ästhetischen Protestes werden, wie der Jump Cut bei Jean-Luc Godard oder der endlose 360°-Schwenk bei Jean-Marie Straub.

Der Angriff der Moderne, der „Nouvelle Vague“ oder des neuen deutschen Films auf das Mainstream-Kino darf mittlerweile getrost als gescheitert angesehen werden, zum einen, weil die kommerzielle Bildermaschine von den unbotmäßigen Modernisten alles stahl, was irgendwie Publikums-Appeal hatte, zum anderen, weil man sich der politischen Provokation schließlich mit staatlicher Hilfe erwehrte. Es ist schwer zu sagen, ob auf dem Weg von Eisenstein zum Video-Clip etwas von der Widerstandskraft einer Schnittfolge übrig bleibt, als klammheimliche Subversion bei Madonna, meinethalben, auf jeden Fall aber bricht der Authentizitätsanspruch der ästhetischen Opposition schneller zusammen als ihre Produktivkraft für Nachschub sorgen kann. Weshalb zum Beispiel Jean- Luc Godard, der alte Fuchs, mittlerweile zu einer eher klassischen Komposition zurückkehrt.

Gehen wir also davon aus, daß es im Kino auch um fundamentaleres geht, als um eine Geschichte, um Bilder oder um eine Meinung, die man daraus gewinnen kann, nämlich um die Art, wie man die Welt vor seinen eigenen Sinnen konstruiert. Raum und Zeit sind durch viele Komponenten definiert, darunter die schiere Macht zur Definition, die Anschauung, die Projektion der Sehnsucht, und vieles andere. Sozial konstruiert dagegen wird ihr Zusammenhang nur durch drei miteinander verknüpfte Diskurse: die Arbeit, den Familienroman und die große Erzählung, in der eine Kultur lebt. Die große Erzählung kann in der Heiligen Schrift niedergelegt sein, und genauer besehen sind die meisten der klassischen Genrefilme nichts anderes als Variationen zu biblischen Geschichten. Sie kann als gemeinsame Utopie funktionieren, wie in der marxistischen Idee, und sie kann ein ungeheuer kompliziertes Geflecht kleiner und kleinster fragmentierter Erzählungen bilden, wie das in unserer Gesellschaft geschieht, die ganz offensichtlich vor allem durch den endlosen Bilderfluß der Medien im innersten zusammengehalten wird. Wer sich dem Fernsehkonsum verweigert, kann von sich selbst nicht mehr mit Gewißheit sagen, ob er überhaupt noch Mitglied dieser Gesellschaft ist. Wir leben also in den drei Bereichen Politik und Ökonomie, Sexualität und Familie und schließlich Kultur und Unterhaltung und konstruieren in ihnen unsere Zeit. Welches der drei Elemente der Konstituierung primär ist, kommt allenfalls auf die Perspektive an. Ändert sich eines davon, so müssen sich zwangsläufig auch die anderen ändern. Nicht nur werden die Verluste in der einen Sphäre in der anderen aufgehoben, kompensiert oder verhandelt, sondern alles strebt auch nach einer gemeinsamen Wahrnehmungs- und Überlebensstrategie. Anders gesagt: Die drei Elemente verhandeln nicht nur die Grundwerte und die moralischen Verbote, sondern auch die Empfindungen von Zeit, Raum und Person. Und es gibt in der Geschichte unserer Kultur immer wieder Zeiten, in denen diese Verhandlung zu keinem sinnvollen ganzen Ergebnis mehr führen. In der Regel hat das reichlich katastrophale Folgen.

Mittlerweile indes scheint es, daß diese Katastrophe zum Dauerzustand geworden ist. Was in der Theorie der Pop-Kultur als semantische Katastrophe, der Zusammenbruch verbindlicher Codes gedeutet wird, ist nicht zuletzt auch eine Katastrophe der Zeit. Denn das Medium ist sozusagen zum Verwalter der Zeit geworden, mit einer Autorität, die früher allenfalls die Uhr auf dem Kirchturm hatte, als augenfälliges Bild dafür, wer über die Zeit gebietet. Das Medium strukturiert nicht nur neben der Arbeit und der Familie unseren Alltag, vom Frühstücksfernsehen über die Mittagstalkshow bis zur Late Night Show, es ist auch Motor von Beschleunigungs- und Retardierungsvorgängen. Jeder neue Schub, technisch oder organisatorischer Art, von der Videotechnik bis zur Einführung des Privatfernsehens, löst sozusagen automatisch eine Zeit-Katastrophe in den Medien aus, die sich aus Konkurrenzgründen noch aggressiver auf die eigene und die Zeit der Konsumenten stürzen müssen. Und das Kino ist mittlerweile, nachdem es die Zeit-Katastrophe der Vietnamisierung einigermaßen bewältigt hat, zu einem eher konservativen Medium geworden, einem Medium, das uns gegenüber dem Fernsehen, dem Rundfunk usw. das Gefühl gibt, uns Zeit eher zu schenken als fortzunehmen.

Und unter vielem anderen bedeutet dies, daß wir nicht mehr in dem sozusagen ausgehandelten Mythos von Wirklichkeit leben, sondern lernen, in verschiedenen Wirklichkeiten, in verschiedenen Zeiten gleichzeitig zu leben. Das läßt sich nicht nur in einer solch platten Beobachtung fassen, daß für viele Menschen das Leben der Familie in ihrer geliebten Soap-Opera schon wirklicher ist als das Leben der Nachbarn und schließlich das Leben der eigenen Familie und schon gar nicht in der medialen Selbstmedikation eines Heulfilms wie "Titanic". Es hat sich vielmehr das Verhältnis von
Original, Abbild und Sinnbild grundsätzlich gewandelt. Ein Film hat zunächst einmal und vor allem mit anderen Filmen zu tun, und längst gibt es Filme, die sich einer visuellen Art des Sampling bedienen. Das hat schließlich nicht zuletzt zur Folge, daß die Erzählzeit nicht mehr aus der inneren Logik einer Geschichte stammt, sondern aus der fragmentarischen Erzählweise der Zitate. Wenn in einem Film von Quentin Tarantino von einem Schnitt zum anderen das Genre gewechselt wird, dann wechselt dabei auch das Zeitempfinden. Es scheint uns zunächst eher grotesk, daß in einem Film, in dem es genügend Morde und Liebesgeschichten für ein Dutzend anderer Filme gibt, endlos lange über scheinbare Belanglosigkeiten wie etwa die Bezeichnung bestimmter Hamburger-Arten geredet wird. Aber auch dies ist vor allem ein durchaus beglückendes Empfinden von Zeit, die hier eben nicht dem Zwang der Reduktion geopfert wird. Nicht die Erzählung konstruiert die Zeit, sondern sie wird in jeder einzelnen Sequenz neu konstruiert. Objektive und subjektive Zeit, gesellschaftliche und individuelle Zeit bilden keine Einheit mehr.

Wir können also so etwas wie eine Definition der Postmoderne im Film auch anhand ihres Umganges mit der Zeit anstellen. Dieser Umgang ist, um einen Begriff aus der Kunstgeschichte zu verwenden, durchaus manieristisch. Das heißt unter anderem, daß es keine lineare Beziehung mehr zwischen Zeit und Bedeutung gibt. Das Bedeutende kann sehr schnell geschehen, und etwas für das zentrale Geschehen im Drama Unbedeutendes kann sehr lange und langsam vonstatten gehen. Es gibt, mit anderen Worten, keine konstante Zeit mehr, sondern stattdessen eine Art der zeitlichen Hyperrealität, wie es in der Literatur am ehesten vom Nouveau Roman gepflegt wurde. Die Protagonisten gehen mit ihrer Zeit nicht um, als hätten sie sozusagen die Chronologie ihres Lebens schon im Kopf, wie es der klassische Held mit seinem zielgerichteten Handeln macht, sondern sie verwenden Zeit gleichsam experimentell. Zum Beispiel können sie sich für Dinge Zeit nehmen, die keinen kausalen Zusammenhang mit den anderen Dingen haben, die sie getan haben oder tun werden. So reagieren sie auf die Zeit-Katastrophe, indem sie ihr Zeit-Empfinden gleichsam aus dem Zwang des großen biographischen Planes herausbrechen und Zeit statt an den eigenen Lebensroman, das eigene Drama viel eher an die jeweilige Situation, an das jeweilige Objekt binden.

So steht der Held im postmodernen Film, der keine innere Zeit mehr zu kennen scheint, sondern sein Leben aus der Übernahme unterschiedlichster, äußerer Zeitformen gestaltet, von der Langsamkeit eines Western in die Schnelligkeit eines Gangsterfilms wechseln kann, am Ende einer langen Geschichte der Entfremdung in der Produktion von Bildern. Das Selbstverständliche der Bilderproduktion in der Mainstream-Kultur wurde verloren, als ein Gleichklang zwischen Medium und Industrialisierung nicht mehr hergestellt werden konnte. Genauer gesagt: die Medialisierung selbst trat die Nachfolge der Industrialisierung an. Wenn es für den modernen Menschen, gut oder schlecht, nachvollziehbar war, daß er sein Leben im Rhythmus der Maschine leben würde, so ist der Mensch in der Postmoderne, komplexer und unvollkommener, an den Rhythmus seiner Medien gebunden, an die Geschwindigkeit, mit der sein Computer Daten und die Familie Beimer in der Lindenstraße Schicksalsschläge verarbeitet.

In der Dreiheit der Zeitempfindung von Arbeit, Biographie und Erzählung ist also kein zentraler Grundrhythmus mehr auszumachen, sondern nur noch schnell wechselnde Prozesse von Be- und Entschleunigung. Die enorme Belastung ist keineswegs die Beschleunigung allein, trotz der kulturpessimistischen Mahnungen leben wir im übrigen keineswegs in einer über die Medien beschleunigten Kultur, sondern der ständige Wechsel unterschiedlichster Zeit-Empfindungen. Und dieses Zeit-Sampling entsteht nicht nur allein aus der prekär gewordenen Beziehung der verschiedenen Lebensbereiche zueinander, sondern auch aus einem Empfinden der Geschichte gegenüber, in der man sich immer weniger zu Hause, in der man sich immer weniger Subjekt wähnen kann, je weniger es eine Synchronität von Story und History gibt. Die medialisierte Gesellschaft bringt zwar unentwegt Leitbilder, Ideale und Idole hervor, das Leben des einzelnen aber wird immer weniger zur Abbild der Gesellschaft selbst. Daher richtet sich unser Interesse, auch dies eine Verwandtschaft des Manierismus und der Postmoderne, von den zentralen auf die peripheren Ereignisse. Die Zeit, die wir in einem unserer Lebensbereiche gewinnen, investieren wir in der Regel nicht in einem gesellschaftlichen Projekt, sondern viel mehr in einer antigesellschaftlichen Projektion. Die Zeit selber wird in einem gewissen Sinne asozial, und Unterhaltung ist demnach längst etwas anderes geworden als nur die traumhaft, erbauende, wunscherfüllende und anregende Phantasietätigkeit zur Reproduktion der Arbeitskraft und des sozialen Elans, sondern eine in sich dynamische Parallelwelt, die in der Lage ist, partiell und im Extremfall sogar vollständig die Biographie zu ersetzen.

Die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft wäre zu schreiben auch als Geschichte der Bilder, die einerseits aus den Räumen der Herrschaft in den öffentlichen Raum bewegt wurden, die sich in der technischen Reproduktion vervielfältigten und die schließlich in Bewegung versetzt wurden, wie es der Dynamik dieser Gesellschaft entspricht. Dabei mußte neben die berechtigte Sorge, die Maschinen könnten eines Tages die menschliche Arbeitskraft und dann den Menschen selbst überflüssig machen, die ebenso berechtigte Sorge treten, die in Bewegung versetzten perfektionierten Bilder könnten eines Tages die Biographien und damit den Menschen selber überflüssig machen. Diese Angst spukt in Horrorgeschichten, Komödien oder Science Fiction Filmen. Daß jemand von seinem eigenen Bild ersetzt wird, gehört schon zu den Phantasien der Spätromantik, doch unsere Phantasien gehen in Filmen wie "Blade Runner" auf eine radikale Vermischung von materiellen, maschinellen und virtuellen Lebensformen. Und natürlich ist es kein Zufall, daß das erste Problem der künstlichen Menschen die Zeit ist: man hat ihnen einfach zu wenig Lebenszeit einprogrammiert, als daß sie ihren biographischen Auftrag erfüllen könnten, so wie umgekehrt der Mensch in unserer Gesellschaft in der knapper werdenden Empfindung von Arbeit, Politik, Geschichte und Kultur das Gefühl entwickeln muß, er lebe sozusagen über seine Biographie hinaus. Ein Aspekt des medialen und semantischen Bürgerkrieges ist es, daß man gegeneinander kämpft nicht mehr um Zeit zu gewinnen, sondern um Dinge zu gewinnen, mit denen man sie füllen kann.

Die gewandelte Empfindung der Zeit drückt sich auch darin aus, daß es in der Erzählung nicht mehr den einen Punkt gibt, von dem aus Geschwindigkeit eindeutig bemessen werden kann. Im letzten Film der Coen-Brüder gibt es dafür ein einfaches Bild: wir sehen eine Bowling-Kugel rollen, während sich gleichzeitig die Kamera in einer anderen Geschwindigkeit bewegt, im Hintergrund bewegen sich Menschen. Diese drei Bewegungen ergeben kein gemeinsames Bewegungsbild mehr, und damit konstituieren sie keine gemeinsame Zeit. In den Science Fiction Filmen der fünfziger Jahre pflegten Raumschiffe nur so an der Kamera vorbeizuzischen, damit wir einen Eindruck von ihrer unvorstellbaren Geschwindigkeit erhielten. Science Fiction Filme von heute dagegen lassen die Raumschiffe majestätisch an uns vorbeigleiten. Daß sie sich dennoch mit nicht vielleicht sogar noch größerer Geschwindigkeit bewegen, erfahren wir nicht nur durch den Dialog zwischen Mr. Spock und Captain Kirk, sondern auch durch die Bewegung des Sternenhimmels im Hintergrund. Die Kamera hat nicht mehr die Position des erdgebundenen zentrierten Menschen in der Aristotelischen Einheit, sie ist statt dessen selber schon in Bewegung und könnte nicht mehr definieren, wo der fixe Punkt für die Konstruktion einer Zentralperspektive sei. Das heißt: auch Beschleunigung und Verlangsamung sind nur relative Begriffe. Und so wie sich irgendwann bei soundsoviel beats per Minute der beschleunigte Rhythmus in einen einzigen ewigen Ton verwandeln muß, so verwandelt sich die Beschleunigung nicht erst im Metaphysischen oder im Weltraum in Stillstand. Diese orbitale Wahrnehmung läßt also automatisch die natürliche Zeit und die metaphysische Zeit verschwimmen.

Das klassische Kino, als unser Beispiel für die dynamische Bilderproduktion, balancierte zugleich die mit der Industrialisierung und auch Militarisierung der Gesellschaft einhergehende Beschleunigung der Bilder mit der Sehnsucht nach der Retardierung, gar dem Stillstand in einem gesicherten Areal. Nichts anderes ist die wellenförmige Bewegung des Westerns, von dem immer noch alle aktionsbedingten Filmformen abstammen, die Kunst des Genres besteht in der Komposition von Phasen der Beschleunigung und Phasen der Retardierung, die zugleich Phasen des offenen und des geschlossenen Raumes sind, im Mythos also Phasen der Wildnis, die durch die Bewegung unterworfen und anverwandelt werden muß, und Phasen des Gartens, der gehegt und zur Ruhe gebracht werden muß. Genau anders herum funktioniert übrigens der deutsche Heimatfilm: der Zustand der Ruhe, das Idyll, ist hier der Ausgangszustand, und selbst der wildeste Berg ist hier schon Teil des Gartens. Die Bewegung wird erst durch die bösen Eindringlinge bewirkt, die am Ende durch die Beschleunigung der Helden bezwungen wird, damit am Ende wieder vollkommene Ruhe eintreten kann. Man sieht also, die Beziehung von Beschleunigung und Retardierung kann durchaus so etwas wie einen ideologischen Charakter annehmen.

Was in der traditionellen Unterhaltung aus der Wahrnehmung der Einheit von Raum, Zeit und Person geschaffen wird, ist der Mythos. Aber vielleicht verhält es sich auch genau anders herum, nämlich so, daß der Mythos geschaffen ist, um uns neben der objektiven und der subjektiven Zeit, der Zeit, die Uhr und Kalender vorschreiben, und der Zeit, die sich in Langeweile dehnen und in Konflikten stauchen kann, eine dritte Zeit-Empfindung zu geben, die zugleich subjektiv und mitteilbar eine Zeit, die wir glauben, gemeinsam zu empfinden. Und das Kino ist nach wie vor der ideale Ort für eine solche Empfindung. Ein Mythos ist insofern nicht vollständig zu erklären, als er selber eine Art von Sprache ist. Er ist keineswegs einfach nur eine mehr oder minder propagandistische Abbildung dessen, was in einer Gesellschaft Konsens und Projektion ist. Er ist keine Erzählung, sondern eine Art des Erzählens. Aber wie bei jeder Sprache kann man natürlich auch bei der mythischen Erzählweise einige grammatische Regeln und eine Enzyklopädie der kleinen Einheiten aufstellen. Ich will ein paar sehr einfache davon aufzählen, die vermutlich jeder Mensch unserer Gesellschaft in seinen kulturellen Codes gespeichert hat und die bedeutend für unsere Zeit-Empfindung sind.

- Die Einheit von Story und History. Was der Held erlebt ist Ausdruck und Motor dessen, was seine Kultur erlebt. Eine Biographie ist nichts anderes als eine Abbildung der Zivilisationsgeschichte dieser Kultur. Diese Beziehung läßt sich im Antihelden zwar in die Negation bringen, der Held will oder kann eben gerade nicht Ausdruck und Motor seiner Gesellschaft sein, sondern ist viel eher ihr Opfer, die eindeutige und lineare Beziehung zwischen beide bleibt trotzdem bestehen.

- Die Einheit von Bild und Idee. Das Wesen einer Erscheinung ist auf eindeutige Weise mit ihrer Oberfläche verbunden auch dann, wenn ich, um diese Beziehung zu verstehen, einen Prozeß der Klärung durchlaufen muß, wie in einem Kriminalfilm, wo ich den Mörder hinter seiner biedermännischen Maske erkennen muß. Am Ende schaut sogar Karlheinz Böhm so, daß ich ihm jeden Mord zutraue, dem ihm das Drehbuch zudiktiert hat, und umgekehrt kann ich einmal erkennen, daß Klaus Kinski tatsächlich furchtbar harmlos guckt, nachdem wir erfahren haben, daß er diesmal nicht der Mörder ist.

- Die Erzählzeit ist über einen Faktor X mit der Lebenszeit verbunden. Es ist kein Zufall, daß es bestimmte Längenformate für den Film gibt, es ist im übrigen auch kein Zufall, daß sich das Längenformat des Hollywood-Films in den letzten Jahren spürbar gedehnt hat. Es ist weiter kein Zufall, daß es bestimmte Verhältnisse der Anzahl von Schnitten zum Längenformat gibt und schließlich, daß in der Regel ein Film auf eine Musik geschnitten wird, auch dann, wenn später ganz andere Musik für den Film verwendet wird. Wir glauben einem Film oder tun es nicht, auch weil wir seiner Zeitkonstruktion glauben.

- Die Person bewegt sich eindeutig in diesem Raum- und Zeit-Kontinuum, das nicht nur eine topographische, sondern auch eine magische Einheit aufweist. Eine Wüste bedeutet: gefährlich viel Zeit und gefährlich viel Raum, sie bedeutet aber auch in unseren kulturellen Codes: Prüfung, Läuterung, Reinheit. Im filmischen Raum ist es nicht nur topographisch und dramaturgisch bedingt, wie sich ein Held oder ein Schurke bewegen, es ist immer zugleich eine moralische Wertung. Wer sich von links nach rechts bewegt, bewegt sich aus der Vergangenheit in die Zukunft, wer sich von unten nach oben bewegt, bewegt sich vom leidenschaftlichen zum spirituellen. Allein durch die Bewegung also können wir im traditionellen Kino die Guten von den Bösen unterscheiden. Der Gute bewegt sich von links unten nach rechts oben in gemessenem Tempo, der Böse in umgekehrter Richtung und entweder in zu langsamem oder zu schnellem Tempo. Alles was im Kino böse ist, verletzt auf die eine oder andere Weise die Regeln von Zeit und Raum. Überdies gibt es, nicht weniger tief abgelagert in unseren kulturellen Codes, Räume des Weiblichen und Räume des Männlichen, die mit der selben schönen Regelmäßigkeit wiederkehren wie die Raumverteilung auf Hochzeitsbildern. Der von der Betrachtung aus rechts gesehene Raum ist die weibliche und der linke die männliche Bildhälfte. Das gibt den Menschen in einem Kino-Mythos also durchaus die Möglichkeit, über Zeichen und Gesten hinausgehende Gender-Spiele zu treiben, ohne die Grundkonstruktion dieser mythischen Anordnung zu stören.

- Zum Mythos schließlich gehört es, daß jedes Element einer Erzählung seinen Sinn in einem dreiaktigen Drama erhält, das von der Entzweihung, dem sozusagen explosionsartig auftretenden Konflikt über das Opfer zur Erlösung führt, natürlich mit allerlei Wendungen und Retardierungen versehen. Zeit bedeutet dabei unter anderem auch Bewertung. Die Bösen sterben schnell, die guten ungefähr so langsam wie Winnetou. Noch wichtiger ist die Funktion der Zeit für die Bedeutung des Zeichens: Ist ein Objekt lange und im Vordergrund des Bildes sichtbar, so handelt es sich zweifellos um ein bedeutendes Objekt, also um ein Symbol; ist ein Objekt mittellang und im Mittelgrund des Kamerabildes im Blick, so handelt es sich in der Regel um ein konventionalisierendes Objekt, ein Objekt, das uns darüber aufklärt, wo und zu welcher Zeit wir uns befinden, wie uns die Präsenz von Kerzenhaltern, gekreuzten Schwertern und schweren Steinen gleichsam automatisch ins Mittelalter befördern, Petticoats, Pferdeschwanz und Motorroller automatisch in die fünfziger Jahre und so weiter, es handelt sich also um ein lkon. Und schließlich gibt es das kurz im Bild erscheinende Objekt im Hintergrund, entweder ein natürliches Zeichen, ein Zeichen, das anders als die beiden ersten weder in der Inszenierung noch im Gebrauch vorkommt, aber für die Raumkonstruktion wichtig ist, oder es ist ein verborgenes Zeichen, das früher oder später hervortreten und unsere Erinnerung anstacheln wird. Kurzum: die mythische Erzählweise benutzt Zeit weder auf natürliche Weise, noch auf bewußte Weise, sie benutzt Zeit, um Bedeutungen auf eine Weise herzustellen, daß sie in der Sprache des Filmes selbstverständlich und, weil es der Mythos will, gleichsam von ewiger Gültigkeit sind. Natürlich konventionalisiert sich das auch, man weiß, wie lange die Gunmen in einem amerikanischen Western brauchen, um sich zu fixieren, bevor sie zum Showdown die Waffe ziehen. Bei einem Spätwestern oder einem Italo-Western ist das ganz anders, die Dehnung und die Stauchung der Zeit in diesem Ritual wird selber zu einem enormen Effekt. Und diese Wandlung geschieht ganz gewiß nicht zufällig in jener Zeit, da die lndustriegesellschaft in der Nachkriegsperiode ihre erste tiefgreifende Krise erlebt. Die Zeit wird uns im selben Augenblick fremd, in dem wir nicht mehr an den allgemeinen technischen wie moralischen Fortschritt glauben können.

- Es gibt schließlich die Einheit von Zeichen und Gestus, und damit auf einer höheren Ebene auch die Einheit zwischen dem Menschen und seiner Maschine. Wieder ist hier der Western das Genre par excellance, indem es die Einheit des Menschen im Gebrauch der Waffe zusammenfaßt: der Revolver ist die perfekte Verbindung von Technik und Archaik, und die Helden werden nie müde zu betonen, wie sehr sie mit ihrer Waffe verschmelzen, wie sehr sie Teil von ihnen geworden ist. Auch diese mythische Einheit ist verloren, Maschinen und Menschen führen vor allem Krieg gegeneinander.

Der Raum und die Zeit also gehen im Kino, anders als im Theater, über die Leinwand hinaus. Das Bild ist nicht repräsentierende Bühne, sondern kommentierter Ausschnitt. Der Raum geht über die Leinwand und in der selben Logik und Topographie weiter, ebenso wie die Zeit nach dem selben Modell vor Beginn der Geschichte und nach ihrem Ende weitergeht. Und dasselbe gilt für die Eindeutigkeit der Person. Ein erfahrener Drehbuchautor wird stets für seine Figur eine innere Biographie entwerfen und sie den Schauspielern mitteilen: Was hat der Held oder die Heldin gemacht, bevor die Geschichte begann, die wir erzählen? Was wird aus ihnen geworden sein? So können die Schauspieler die Vollstandigkeit einer Biographie widergeben, die sich durch die Geschichte selber gar nicht erschließen lassen muß. Die Kino-Zeit geht also immer über die Handlungszeit hinaus, ein Film ist nie auf die Weise zu Ende, wie ein Theaterstück zu Ende ist. Im traditionellen Kino erleben wir also eine eindeutige aber offene Form von Zeit, im postmodernen eine mehrdeutige aber geschlossene Form.

Wenn wir alles dieses zusammenfassen, dann ist also das Kinoerlebnis, und natürlich in seinen bescheidenen Dimensionen auch das Fernsehen, eine eindeutige mythische Abbildung des wirklichen Lebens. Das heißt nicht, daß es in irgendeiner Weise realistisch sein muß, es heißt, daß es aus der alten eine neue Eindeutigkeit, eine bewohnbare, erklärbare und in sich logische Welt, wenn man so will, eine Art Heimat auf Zeit, gewinnt. Natürlich gehen wir nicht nur mit einer bestimmten Art, Bilder zu sehen, ins Kino hinein, sondern wir kommen auch mit einer bestimmten Art, Bilder zu sehen, wieder heraus. Und niemand könnte sagen, daß in dieser wahren Black Box nichts mit unserer Wahrnehmung geschehen sei. Im Extremfall versucht man sogar, den eigenen Lebensrhythmus sozusagen kinomäßig umzugestalten.

All das also, der Gleichklang von Story und History, die Balance der Zeit-Empfindungen von Arbeit, Familienroman und Erzählung, die Auflösung der Biographie als Metapher für die Gesellschaft und umgekehrt, ist im Grunde in der post-demokratischen Mediengesellschaft nicht mehr zu einer so oder so verbindlichen Erzählung zu ordnen. Unsere Medien haben sehr unterschiedliche Formen entwickelt, darauf zu reagieren. Die Beschleunigung ist dabei ebenso eine Möglichkeit wie die nostalgische Rekonstruktion, die ästhetische Askese ebenso wie die kritische Reflexion. Doch alle diese Möglichkeiten können die Widersprüche nur abweisen, die Zeit-Katastrophen und die semantischen Katastrophen nur hinauszögern. Die Möglichkeit indes daraus ästhetischen Gewinn zu erzielen hat zunächst nur das, was als Postmoderne in sehr schlechten Ruf geraten ist, weil man es mit der Vorstellung von Beliebigkeit, mit willkürlicher Vermischung von Elementen der Kunst und der Unterhaltung, und schließlich mit dem Primat der Oberflächen-Erscheinung assoziiert hat.

Ich unternehme jetzt den Versuch, das Kino von David Lynch als Beispiel von diesem Vorwurf zu bewahren. Begeben wir uns auf eine Reise ins innere von Lynchville und damit vielleicht ins Innere der postmodernen Wahrnehmung. Ich möchte meine Gedanken dazu in einigen Thesen zusammenfassen:

1. Die Erzählweise im postmodernen Kino, insbesondere bei David Lynch, sind keineswegs willkürliche Brüche mit dem traditionellen Erzählkino und mit der aristotelischen Einheit des Dramas, sondern es sind, gleichsam hyper-realistische Reaktionen auf gesellschaftliche Entwicklungen. Der postmoderne Mensch schafft seine Bilder weder durch die Bearbeitung der Natur noch durch die Reise als gelebte Form der Erzählung. Die Bilder sind schon vor der Erfahrung da. Er hat die Welt bereits im Kopf und seine Reisen finden in seinem Kopf statt.

2. David Lynchs Figuren leben in mehreren Welten gleichzeitig so wie es auch zu unseren Lebensstrategien gehört. Sie haben sozusagen die Schizophrenie zur Biographie erhoben. Daher gibt es für sie weder eine lineare, christlich-kapitalistische, noch eine zyklische Form der Zeit, wie sie in asiatischen Religionen und ihren Pop-Ablegern zu finden sind. Wenn seine Figuren wirklich, wie Lynch selber sagt, innerhalb eines Traumes leben, so gewinnt das, was wir Wirklichkeit nennen, den Charakter der Metaphysik. Wir wissen von diesem Zustand, und wir wissen zugleich, daß er für uns unerreichbar ist. Die Welt, in der wir wirklich leben, ist hingegen die Welt der Zeichen.

3. Die Zeit selber ist bei David Lynch nicht einfach suspendiert, wie, sagen wir, in einem Traum oder einer surrealistischen Erzählung, sondern sie wird deutlich als Konstruktion. Wir leben nicht, wie wir es im traditionellen Empfinden formulierten, in der Zeit, sondern wir konstruieren umgekehrt aus unserem Leben die Zeit. Lynch benutzt eine Reihe von ästhetischen Mitteln, um uns in keinem Augenblick an die Natürlichkeit der Zeit glauben zu lassen. Zunächst gibt jeder seiner Filme eine ganz eigene Zeitempfindung vor, die zumeist gegenüber der alltäglichen Zeitempfindung eher verlangsamt ist. Der Regisseur geht dabei so weit, nicht nur für einzelne Filme, sondern auch für einzelne Sequenzen innerhalb der Filme eigene Filmgeschwindigkeiten zu wählen, die von den gewohnten vierundzwanzig Bildern pro Sekunde abweichen. Die irritierende Wirkung der Lynch-Filme beginnt also damit, daß Filmzeit und Lebenszeit nicht identisch sind, und der Film gibt schon auf dieser Ebene nicht vor, das Leben zu imitieren, sondern setzt schon Zeit in der Mikrostruktur der Abbildung als eigenständiges Kompositionselement ein.

4. Immer wieder begegnen wir in David Lynchs Filmen Menschen, die in einer vollkommen anderen Zeit leben, in der extremsten Form sind das Menschen, die physisch oder psychisch eigentlich tot sind, aber im Kreis der Lebenden verbleiben, weniger dramatisch sind es Menschen, die in völlig unterschiedlichen Bewegungsrhythmen leben.

5. Die Figuren in Lynchville sind keine Personen im traditionellen Sinne, die durch eine komplette Vita ausgezeichnet sind, die auch vor und nach der Geschichte in sich logisch Fortzusetzen wäre. So wie sie nicht in der Zeit leben, sondern Zeit selber konstruieren, so leben sie nicht in der eindeutigen Person, sondern sie konstruieren sich. Für unsere Verhältnisse würden wir wohl sagen müssen, daß alle Menschen in David Lynchs Filmen auf die eine oder andere Weise verrückt sind. Aber in Lynchville - und ich wage zu behaupten, daß dieser Ort die perfekte Abbildung der postmodernen Gesellschaft ist - ist es vollkommen normal, verrückt zu sein. Die Neurose als Konstrukt ersetzt die Biographie als Schicksal. In diesem Sinn würde Lynch wohl Christoph Schlingensief zustimmen, wenn er behauptet, Film sei nichts anderes als die dokumentierte Neurose.

6. Wenn es keine lineare, objektive Organisation der Zeit, sondern nur ein scheinbar chaotisches Nebeneinander verschiedener, eher gekrümmter Zeit-Konstruktionen, und keine personale Identität außer der durch die Neurose und durch die Verwendung von Zeichen konstruierte gibt, ist auch die vollständige Verwandlung denkbar, die in "Lost Highway" durchgespielt wird. In diesem Film können wir das Bild eines schizophrenen Mörders sehen, der sich unter dem Druck von Schuld und Strafe in einen anderen Menschen verwandelt. Aber von keinem Standpunkt aus ist zu klären, welcher von beiden Existenzen, die über so viele Zeichen, Personen und narrative Segmente miteinander verbunden sind, die eigentliche, und welche die geträumte ist. Die halbwegs nachvollziehbare Tatsache, daß der Mensch in der post-demokratischen Mediengesellschaft nicht mehr Subjekt seiner Geschichte sein kann, findet ihr erschreckendes und faszinierendes Bild in einem Menschen, der sich überhaupt nicht mehr in den Kategorien des Subjekts und des Objekts fassen läßt, denn so wenig wir einem Menschen zuschauen, der in der Zeit und in seinem Schicksal lebt, so wenig sehen wir jemandem zu, der sein Leben gestaltet. Er repräsentiert weder ein Ich, noch ist er ein Objekt im Sinne eines vollständigen Gegenübers. Es ist das Leben, das nicht seinen eigenen Plan, und die Zeit, die nicht ihren eigenen Zeitplan enthält.

7. Daß der postmoderne Film neben der Person und dem Raum die Konstruktion der Zeit so in Frage stellen kann, liegt unter anderem daran, daß sein Material nicht etwa die modernisierte, rationalisierte, asketische und reflektierte Form der Erzählung ist, sondern die archaischste Form überhaupt, das Märchen, die Ur-erzählung, sozusagen die Matrix aller Erzählungen, der Geburts- und Schöpfungsmythos, die Konstruktion des ödipalen Dreiecks. Jede Interpretation dieses Mythos im Rahmen der Moderne hat immer wieder neue Aspekte, neue Interessen, neue Konstellationen zur Sprache gebracht, dabei aber immer eine Eindeutigkeit vorausgesetzt, die dem Mythos selber nicht innewohnt. Die ödipale Situation, kurz gesagt, die dramatische und leidvolle Trennung des Kindes von den Eltern, die eine ganze Kette von Entzweihungen und Verbrechen beginnt, ist selber die Konstruktion unserer Zeit, indem sie Lebensabschnitte definiert, indem sie das Ziel des Lebens konstruiert, das Gelingen dieser Trennung und ihr gleichzeitiges Scheitern als Bewegungsmotiv in einer Biographie, die von dieser Ur- Situation ihren Anfang und ihr Ende findet. Linear eben. In David Lynchs Filmen wird dieser Mythos beständig neu untersucht und umgewendet, und er verliert mit seiner Eindeutigkeit auch seine Fähigkeit, die lineare Konstruktion der Zeit zu bewerkstelligen. Lynch stellt in der Intrige, die den ödipalen Mythos abbildet - immer wieder der junge Mann, der dem alten Mann die Frau zu nehmen versucht - stets auch die Frage nach der Inszenierung. Die Dekonstruktion des Mythos gelingt tatsächlich, weil wir ahnen, daß er nur aus Inszenierungen und Projektionen besteht. So kämpfen zwar immer wieder auch bei David Lynch die Prinzipien gegeneinander: der Vater als Herrscher über die geordnete Zeit und über den Raum, die Mutter als Verkörperung ewiger Wiederkehr, von raum- und sprachloser Identität, aber dieses Ur-Drama, der Stoff aus dem alle Erzählungen unserer Kultur gemacht sind, zerfällt vor unseren Augen in seine Konstruktionspartikel.

8. Wenn wir innerhalb eines Traumes leben, was man als poetische ebenso wie als soziologische Vorgabe verwenden kann, ist das Metaphysische nicht das Außerhalb, sondern ein Teil der inneren Architektur. Ganz selbstverständlich überschreiten die Helden von David Lynchs Filmen die Grenzen zwischen dem Materiellen und dem Spirituellen, die Lebenden nehmen ganz selbstverständlich Umwege über das Totenreich. Und so ist es folgerichtig, daß Agent Cooper in "Twin Peaks" in das wiederkehrende rote Zimmer des Todes gelangt, um der ermordeten Laura Palmer zur Geburt oder zum endgültigen Tod zu verhelfen. So wie man sagen kann, daß unser traditionelles Genrekino eine Erzählung generiert, die stets zugleich eine biblische Geschichte und eine Metapher für die demokratisch-kapitalistische Gesellschaft ist, gehen David Lynchs Filme hinter diese Verbindung zurück, zu einer noch polyphonen Religiösität im Urzustand, und zu einer Metaphorik, die die Macht in ihrer Gewalt meint, den Körper, der nicht identisch mit den Zeichen ist. Dabei verlieren auch Anfang und Ende der Erzählung ihre Eindeutigkeit, die Geburt ist immer schon Tod, und der Tod immer schon Geburt. So wenig man also die Lynch-Helden zu vollständigen bürgerlichen Individuen hochrechnen kann, so einfach wäre es, ihre Geschichten in immer neuen Kreisen von Tod und Wiedergeburt weiterzuentwickeln.

Auch in dieser ästhetischen Projektion spukt eine durchaus realistische Beobachtung. Der postmoderne Mensch ist nicht mehr in der Lage, sein Heil in der großen Erzählung einer Religion zu finden. Seine Gesellschaft zerfällt gleichsam in den Aspekt eines besinnungslosen Fundamentalismus - das absolute Primat der Schrift, der Wörtlichkeit - und einen anderen Aspekt des nicht weniger besinnungslosen Mystizismus - das absolute Primat des Bildes, der Empfindung. Der Lynch-Held reflektiert diese Zerissenheit, indem er sich sozusagen zur eigenen Religion wird. So wie sich der Held von "Blue Velvet" gleichsam den ödipalen Konflikt, den er in seiner braven Vorstadtfamilie nicht erleben durfte, in einer dunklen Seite der Stadt holt oder vielleicht auch erfindet, so ist der Agent Cooper in "Twin Peaks" eine Art Schamane mit Polizeimarke, der neben der klassischen Deduktion immer auch religiöse Rituale verwendet und in dessen Händen der Doughnut und die Tasse Tee Aspekte des relgiösen Kultgegenstandes annehmen.
Nicht anders als mit der Religion verhält es sich mit der Zeit-Konstruktion. Sie zerfällt in den fundamentalistischen Teil, das durchaus terroristische Diktat der sozusagen objektiv gemessenen Zeit und in die hemmungslos genossene Subjektivierung und Mystifizierung der Zeit, beim Bungeespringen oder in der langen Nacht im Internet. Die gesellschaftliche und die private, die ökonomische und die psychische Zeit haben also beinahe nichts mehr miteinander zu tun. Anders gesagt, der Widerspruch zwischen beidem ist nur durch das dritte Segment, das Medium zu lösen, das uns zugleich objektive Zeit zu vermitteln scheint und familiäre und individuelle Erlebnisse anbietet. Das Programmschema in der Fernsehzeitschift ist auf diese Weise zur neuen Definition von Zeit geworden. Die Lynch-Helden reagieren darauf, indem sie stattdessen mehrere Entwürfe nebeneinander stellen, sie leben in verschiedenen grammatischen Formen, in der Verlaufsform und zugleich im Konditional zum Beispiel, und sie eignen sich Zeichen an, die sozusagen aus der Zeit fallen.

9. Die lineare Konstruktion der Zeit hebt David Lynch auch in den Makro-Elementen der Narration auf. Wie zum Beispiel auch in den Filmen der Gebrüder Coen verwendet er bedeutende, gehauchte und konventionalisierende Objekte nicht im synchronen Zustand, das heißt, wir befinden uns zum Beispiel, was die Technik anbelangt in den achtziger Jahren, was die Dekorationen anbelangt aber eher in den fünfziger Jahren. Der Film hat also keine eindeutige historische Zuordnung und keine eindeutige Erzählzeit mehr. Dies freilich führt unter den Händen eines Künstlers keineswegs zu den alternierenden Zuständen mythische Zeit (wie beim Western), Niemandszeit (wie beim Fantasyfilm) oder Gegenwart (wie im ewig laufenden Fernsehfilm), sondern zu einer vielschichtigen Beschreibung dieses Zustandes, in unterschiedlichen Zeiten und Realitätsebenen zugleich zu leben. Ein moderner Filmkünstler wie Martin Scorsese geht etwa mit Musikzitaten, mit Gegenständen des alltäglichen Lebens, mit Kleidung und Sprache überaus präzise um, er benutzt sie im Sinne eines doppelten Realismus zur Kennzeichnung der Zeit und zur Kennzeichnung der Personen. Sie werden durch diese Zeichen erklärbarer, sie werden zu Elementen der Gleichung von Story und History. Ein postmoderner Filmemacher wie David Lynch verfährt genau umgekehrt. Er benutzt Zeichen und Zitate, die die historische Erklärung geradezu unmöglich machen. Ein Zeichen widerspricht dem anderen, und jede Spur führt zu einer anderen Quelle. Diese Menschen und ihre Objekte also sind in der Geschichte nicht zu Hause, sie begründen demnach auch keinen historischen Mythos - so als könnten wir von ihnen erfahren, warum alles so geworden ist, wie es gekommen ist - sondern führen im Gegenteil auf sehr viel fundamentalere Erfahrungen, auf ein Mensch-Sein jenseits der Geschichte.

In "Lost Highway" sind zwei unterschiedliche Erzählungen und zwei unterschiedliche Identitäten nach der Form eines endlos geflochtenen Bandes ineinander gedreht, in dem sich die Innenseite beständig in die Außenseite verwandelt, aber beides einander nicht berührt. Und obwohl die eine Geschichte ohne die andere nicht zu verstehen ist, der eine Mensch auch in einer Verflechtung der Zeiten, in das Leben des anderen greift, sind sie doch durch unterschiedliche Zeit-Zeichen charakterisiert. Sie stellen also die Frage, warum aus der Story nicht mehr History werden kann und umgekehrt.

10. Alle Helden von David Lynch sind nur sehr schwer einzuordnen, was die Skala der bürgerlichen Biographie anbelangt. Sind es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene? Man könnte sagen, sie haben von allem etwas, sind also zugleich dem nicht zu Ende geborenen Menschen verwandt wie dem re-infantilisierten, vor dem uns die Kulturpessimisten wahrscheinlich auch nicht ganz zu Unrecht warnen. Damit wird eine weitere Konstruktion des Mythos aufgekündigt, die Identität von Biographie und Zivilisationsgeschichte. Und dann, noch eine Stufe tiefer, das bürgerliche Bildungsideal von der Formung einer Person. Der schamanische Polizist in "Twin Peaks" ist mal Kind, mal Greis, mal Mystiker und mal Aufklärer, er ist ungeheuer reich in der horizontalen Linie, zieht sich aber, was die vertikale anbelangt, beinahe auf einen Punkt zusammen. Jene innere Biographie, das Leben, das vor der Filmserie begonnen und nach ihr fortgesetzt wurde, existiert nicht, auch und gerade wenn Lynch der Fernsehserie einen Kinofilm nachschiebt, der eine Vorgeschichte erzählt, die allerdings zugleich der Hauptgeschichte widerspricht und ohne sie gar nicht zu verstehen ist.
Die Metaphysik der Handlung ist also nicht mehr die moralische und historische Bildung einer Person, genauso wie nicht mehr die Bildung der Familie oder der Ersatzfamilie das Ziel ist. In David Lynchs Filmen haben wir es mit einer neuen Form von Einsamkeit zu tun. Es ist nicht mehr die Einsamkeit des Cowboys, der immer weiterziehen muß, weil er den Widerspruch zwischen seiner Sehnsucht nach Freiheit und seiner Sehnsucht nach Liebe nicht zusammen bekommt, auch nicht die Einsamkeit des existentialistischen Menschen, der zu einer Freiheit verurteilt ist, die er nicht hat, es ist vielmehr die Einsamkeit eines Menschen, der mit den Zeichen der Welt allein gelassen ist, der die Welt unendlich lesen muß, ohne ihre Grammatik zu kennen. Die Spaltung der Persönlichkeit wird in schlechten Filmen daher so gern zur Metapher für diese Einsamkeit, die nicht mehr, wie in der Moderne einem Zustand der Leere zu entsprechen scheint, sondern einem Zustand der Überfülle. Der Kinoheld der achtziger Jahre war in der einen oder anderen Weise schizophren. Die Einsamkeit des Lynch-Helden aber ist noch fundamentaler, weil er, wie wir im zweiten Abschnitt gesehen haben, mit seinen Mitmenschen weder in einer gemeinsamen Erzählung noch in einer gemeinsamen Konstruktion von Zeit und Raum lebt.

So wird schließlich eine weitere Kongruität im Mythos aufgekündigt. Der Mensch und sein Welterleben zerfällt in den Körper und in die Idee, und bei Lynch wird immer wieder deutlich, wie sehr auch seine Architektur und seine Technik eine sozusagen schizophrene Projektion von Körper und Kopf sind. Eben jene Einheit von Industrie, Biographie und Kultur ist aufgelöst; die Industrie arbeitet bei Lynch längst schon ohne den Menschen und in ihrer eigenen Zeit. Man könnte sagen: Die Welt wird immer schneller, aber der Mensch wird dabei langsamer. Auch dies ein Bild dafür, daß der Mensch von seiner eigenen Technik überholt wird.

Auf einer ersten, sozusagen metaphysischen Ebene werden wir in Filmen wie denen von David Lynch auf das Ende der christlichen Zeit-Vorstellung, nämlich der Linearität von Paradies, Wanderung durchs Jammertal Erde und schließlich Erlösung oder Verdammnis zur Ewigkeit vorbereitet. Die Zeit wird eher spiralförmig, im Modell des geflochtenen Bandes, aber auch in fraktaler Organisation endloser Selbstähnlichkeit verstanden. Sehr viel einfacher, aber nicht weniger wirksam macht es Quentin Tarantino, wenn er in "Pulp Fiction" Stränge seiner Erzählung so auf sich selber zurückbezieht, daß sie weder im gewohnten Raum/Zeit-Kontinuum, noch im Modell von Ursache und Wirkung aufgehen. Aber was bei Tarantino eher cool abläuft, das sehen wir bei David Lynch als ausgesprochen schmerzhafte Angelegenheit, seine Helden erleben zwar die Wucht des postmodernen, aber man kann gewiß nicht sagen, daß sie damit glücklich werden. Agent Cooper in "Twin Peaks" ist vielleicht die einzige Person in Lynchville, die ihre postmoderne Konstruktion zu ihrem und anderer Leute Vorteil verwenden kann. Gegen die archaische Macht des Bösen hilft es am Ende dennoch nicht.

Ich hoffe, es ist klar geworden, wofür ich in diesem Zusammenhang plädieren möchte, nämlich das postmoderne Kino und insbesondere das von David Lynch nicht als künstlerische Exaltation oder individuellen Protest abzutun, auch nicht als Technik der Verfremdung, sondern es nutzbar zu machen, als in einem neuen Sinn durchaus realistisches Bild der Gesellschaft und der Kultur, in der wir leben. Man kann gelegentlich erschrecken, wenn man an bestimmte Orte kommt und bemerkt, daß es dort tatsächlich so aussieht wie in einem Lynch-Film. Und noch mehr erschrecken kann man, wenn man einen Ausflug in die eigene Seele unternimmt, daß es auch da drinnen schon ziemlich Lynch-mäßig zugeht.
 

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