Medium und Intervall: Vom Buch zum Computer
 

Götz Grossklaus
 

Abstract
Intervalle führen zu einem Nächsten, einem Anderen, möglicherweise Neuem. Insofern sind sie von Kunst gern genutzte Mittel. Wie Intervalle geordnet und strukturiert sind, hängt entscheidend ab von dem Medium, in dem ein solches Intervall realisiert wird.
Entsprechend müssen sich Dauer und Format der Intervalle mit Entwicklungen wie Foto, Film oder Neue Medien ändern. Die These ist, dass sie als Zwischenräume intensivierten Wahrnehmens und Nachdenkens zwischen Vergangenheit und Zukunft durch die Neuen Medien peu a peu schrumpfen und verschwinden. Dies hat notwendigerweise auch Konsequenzen für die Kunst.

 

Medium und Intervall: Vom Buch zum Computer

1.
Ursprünglich bedeutet "intervallum" im lateinischen Wortsinn: ein räumliches Feld zwischen zwei Schanzpfählen. In ersten Ableitungen waren aber auch schon Wendungen in Gebrauch, die "intervallum" als Zwischenzeit, als Pause, und Ruhepunkt oder im Kontext der Musik als Tonstufe nach Tonhöhe oder -tiefe (intervallum sonorum) deuteten. Im tonalen System unserer europäischen Musik sind Intervalle bekanntlich die Abstände zweier Töne nach den Tonschritten von Sekunde - Terz - Quinte usw. bis zur Oktave.

Pragmatisch lassen sich Intervalle somit bestimmen als offene unbestimmte Räume oder Felder, die zwei wohldefinierte Ereignisse oder Zustände zeitlich oder räumlich voneinander trennen und scheiden.

Aber was geht in diesen Zwischenzeiten und Zwischenräumen vor? Zweifellos sind es Übergangszonen, Passagen, durch die man von einem Zustand in einen anderen wechselt. Es sind Transferstellen, die zwischen den Grenzpunkten eines "alten" und eines "neuen" Zustandes sich öffnen: ein befremdliches Niemandsland, das sich in unterschiedlicher Erstreckung dehnt zwischen der Ausgangs-Provinz, die ich verlasse - und der Ziel-Provinz, in der ich ankomme.

Zwischenzeiten und Zwischenräume werden zu Spielfeldern des Möglichen. Intervalle sind "Orte" reiner Potentialität, "Orte" auch unserer Wünsche und Phantasien.

Traditionell haben Kulturen Intervalle entworfen und festgelegt zeitlich zwischen Ereignissen und Zuständen der Vergangenheit – der Gegenwart und als "erwartet", "erhofft" oder "befürchtet" in der Zukunft. Die trennenden Zwischen-Zeiten als Übergangszonen können wahrgenommen werden in Bildern und Metaphern - etwa der "Passage" oder der "Schwelle" bei Benjamin, denen im ethnologischen Sinn immer bestimmte "rites de passage" entsprechen.

Gleiches gilt für den elementaren räumlichen Zwischenraum, der zwischen "innen" und "außen" als Korridor jeglichen Transfers erfahren wird: zwischen "Mitte" und "Rand" etc.

Dem Intervall kommt im Sinne einer symbolischen "Passage", eines symbolischen Transfers oder eines symbolischen Überschreitens der "Schwelle" die Bedeutung zu, Pfade kenntlich zu machen, auf denen wir zum jeweils "Anderen" gelangen. So von der "alten" Zeit in eine "neue" Zeit: von der Jugend ins Erwachsenenalter, von "innen" nach "außen" wie vom "Eigenen" zum "Fremden", vom "Privaten" ins "Öffentliche" etc. Intervalle bedingen jedesmal die Wahrnehmung der Differenz. Die traditionellen, vortechnischen Gesellschaften halten diese Zwischenräume und Zwischenzeiten offen und garantieren eine mit Risiken behaftete 'Passage'" in deren Verlauf sich der Passageur weder "innen" noch "außen" befindet, weder im "Privaten" noch im "Öffentlichen", weder im "Eigenen" noch im "Fremden".

Das Zwischenfeld des Intervalls erfährt er als eigentümlich "wilde", undefinierte, auch Angst erregende Zone gesteigerter Wachsamkeit und intensiver Orientierungsleistung und Differenz-Wahrnehmung.

Mythen und Literaturen haben sich seit jeher dieser Intervalle und Passagen angenommen. In der unterschiedlichen Weite der (Zwischen) Räume und (Zwischen) Zeiten haben sich die Helden zu bewähren: was sie auf ihren Passagen sammeln sind "Schwellenerfahrungen" (Benjamin).1

Die These ist, daß wir zivilisationsgeschichtlich dieser Erfahrungen von Intervallen, "Passagen" und "Schwellen" verlustig gehen. Und zwar gerade in dem Bereich, der nicht nur Intervall- und Schwellen-thematisierend ist, sondern geradezu als Intervall entwerfend zu denken ist, nämlich in Literatur und Bild.

Seit dem Auftreten des ersten technischen Mediums, der Photographie scheinen zeiträumliche Intervalle - extern wie intern - zu schrumpfen, scheinen sich die Passagen zu beschleunigen und die Schwellen einer sukzessiven Nivellierung ausgesetzt zu sein.

Was ändert sich im kulturellen Haushalt der Gesellschaft, wenn es zu Verschiebungen in der Ordnung der Intervalle kommt? - wenn Intervalle nicht wie bisher die Lebenswelt gliedern und strukturieren? - wenn die Individuen von "Schwellenerfahrungen" ausgeschlossen bleiben?
 

2.
Im Mittelpunkt unserer Untersuchung steht die mediale Ordnung der Intervalle. Welche Bedeutung hat für uns Schwund und Schrumpfung des medialen und kommunikativen Intervalls?

Es ist davon auszugehen. daß jedes Medien-System auf einer unterschiedlichen Ordnung zeitlicher Intervalle ruht. Als Medien-System bezeichne ich im folgenden den je spezifischen Verbund von Sender - Code. - Kanal - Botschaft - Kontext und Empfänger. So haben wir es im traditionellen System der Printmedien mit dem Zusammenschluß von Autor - schriftsprachlich/literarischen Codes und Kanal des mechanischen Druckverfahrens - von Buch - Botschaft - Leser und Lesekontext zu tun.

Zwischen dem Autor und dem Leser, zwischen den Akten des Schreibens und dem Akt des Lesens dehnen sich Intervalle unterschiedlicher Länge - je nachdem in welchem Zeitraum die Botschaft des Autors den Leser via Druck und Distribution erreicht. Intervalle liegen zwischen den Akten des Schreibens - des Gedruckt-Werdens - des Vervielfältigens - des Verteilens - des Kaufens und des Lesens.

Diese Intervalle scheinen rein äußerlich (extern) und doch sichern sie so etwas wie "kognitive Abstände", zu überbrückende Distanzen zwischen den kommunikativen Polen, Etappen oder Akten im Gesamtprozeß der Übermittlung einer Botschaft. Viele Intervalle legen dabei ein langsames Tempo des kommunikativen Verkehrs fest, wenige Intervalle ein schnelleres Tempo.

Mediengeschichtlich geht die Beschleunigung des kommunikativen Verkehrs folglich mit der Schrumpfung- und letztlich mit dem Verschwinden der Intervalle einher.

Mehr als diese externen Intervalle interessieren uns hier die internen Intervalle:

a) So sind für die Schreibzeit, die der Autor zur Abfassung eines Manuskripts benötigt, Intervalle anzunehmen, wiederum eher "äußerlich": Schreibpausen, Zwischenräume zwischen verschiedenen Schreibphasen.
Für den kreativen Prozeß aber des Schreibens, z.B. des poetisch-literarischen Schreibens sind diese internen Intervalle mehr als bloße Pausen.
Es sind Zwischenzeiten mentaler Leere oder Dichte, in denen Abrüche drohen oder vollkommen neue Verknüpfungen sich herstellen.
Es sind Zwischenzeiten, in denen die Wahrnehmung des Bedrohlichen und Unartikulierten überhand nehmen kann, und die Ordnung der Zeichen, die Ordnung der Schrift zusammengebrochen scheint und ihre Re-Etablierung noch nicht bewerkstelligt ist.
Es sind Intervalle, die der Autor als "Passage" erfahren kann - zwischen "Punkten" und "Spannen" des "Traums" und der "Wacharbeit" der Umsetzung in die lineare Ordnung der Schrift: zwischen den Polen von "Imagination" und "Zeichen".

b) Für den kreativen Prozeß des Lesens bedeuten die Intervalle der Lesezeit notwendige Zwischenzeiten, in denen immer wieder die "Leer-Stellen" des Textes zu füllen und zu besetzen sind. In den Intervallen der Lesezeit öffnen sich die kognitiven "Räume" der Semiose: des Verweises von einem Interpretant auf den anderen, entwirft sich das Netz kultureller Zeichen-Bezüge das ganze Universum der Konnotationen, das sich der Schrift entzieht, konstituiert sich, "interlinear" und wird aus den Zwischenräumen begehbar. Konnotative Intervalle unterbrechen den Fluß der Schrift und gewähren den von der Umsetzung in Schrift ausgeschlossenen Inhalten Zutritt zum Text eines Romans, eines Gedichts.

c) Schließlich konstituiert sich die traditionelle Botschaft z.B. eines Romans in Buchform

Immer wieder werden im Laufe der Erzählung zwischen Anfang - Mitte und Ende unterschiedlich lange Zeitstrecken übersprungen, die dann als Intervalle präsent bleiben.

Über die Intervalle ist die erzählte Handlungszeit eines Romans immer verknüpft mit dem angenommenen Kontinuum geschichtlich-objektiver Zeit. In den Intervallen öffnet sich der Tiefenraum der Geschichte. Die Intervalle gliedern die Zeit, indem sie Abstände und Distanzen markieren. Narrative Intervalle bezeichnen zwei Grenzpunkte oder –linien. Bis zur ersten Grenzlinie reicht ein erstes "beschriftetes" Zeitfeld - von der zweiten Grenzlinie ab dehnt sich ein zweites "beschriftetes" Zeitfeld, dazwischen liegt das unbeschriftete Zeitfeld des geschichtlichen Chaos.

Das Mediensystem von Schrift und Druck - vom Manuskript und Buch ruht somit auf einer komplexen Ordnung externer und interner Intervalle. Sie bietet ein hohes Maß an kognitiver Orientierung im Universum der sprachlichen Zeichen.

Von dieser Intervall-Ordnung des Schrift-Buch-Mediums haben wir uns seit dem massiven Auftreten der Bild-Medien auf der kulturellen Bühne immer weiter entfernt.
 

3.
Bild-Medium der Photographie

Betrachten wir das Bild-Medium der Photographie auf der Folie der Intervall-Struktur von Buch und Schrift, dann fällt sofort auf, daß gegenüber dem Print-Medium alle externen und internen Intervalle zeitlich stark verkürzt erscheinen.

Im Extremfall: Bei der Benutzung einer modernen Polaroid-Kamera entfallen schon alle Intervalle, die normalerweise zwischen Sender (Photograph) und Empfänger (Betrachter) und den einzelnen Stationen von Herstellung - Entwicklung und Distribution liegen. Damit ist die Polaroid Kamera schon vergleichbar einer TV-live-Bildübertragung. Das Polaroid-Photo ist in Minutenfrist herstellbar - zu entwickeln und betrachtbar.

Theoretisch können sich Sender (Photograph), das photographierte Ereignis (Objekt), die photographierte Person und die Bildbetrachter in ein und demselben Minutenzeitfeld der Gegenwart befinden - im Unterschied aber zum Fernsehen (live) befinden sie sich auch im identischen Raumfeld - und zwar in Körper-Präsenz.

Für den Normalfall der Photo-Botschaft im Mediensystem der Photographie sind verkürzte Intervalle anzunehmen zwischen Aufnahme und Bild und zwischen Bild und Betrachtung.

Die Jahresfristen beim Printmedium verkürzen sich z.B. beim Presse-Photo auf Tages bzw. Wochen-Fristen. Die Beschleunigung, die das neue technische Verfahren mit sich bringt, wird wahrnehmbar als Schrumpfung der vertrauten Intervalle. Dramatisch wirken sich Beschleunigung und Schrumpfung intern aus auf die Abfassungs- und Aufnahme-Zeit, auf die Bild-Zeit und auf die Betrachtungszeit. Alle diese Zeiten scheinen aufs Momentane, aufs Augenblickliche verkürzt. Das photographische Bild entsteht technisch durch sprunghaft sich verkürzende Belichtungszeiten schon bald in Sekundenbruchteilen (am Ende des 19. Jahrhunderts). Im photographischen Bild erscheint eine blitzartig belichtete Zeitstelle, ein isolierter Zeitpunkt, der uns zunächst jede Verknüpfung mit anderen Zeit-Punkten zu verwehren scheint, Punkte eines "Vorher" und "Nachher" bleiben un-belichtet - un-angezeigt. Licht fällt nur auf eine schmale Gegenwartsstelle. Es ist allein - wie Benjamin es sagt - dieses "Hier und Jetzt, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat".2 Die magische Präsenz eines vergangenen Wirklichen (Barthes)3 behauptet im Bild so etwas, wie technisch vermittelte Unmittelbarkeit - Abstandslosigkeit und Nähe. Entschiedener als das traditionelle manuelle Bild fällt das neue technische Punktbild der Photographie aus dem Zeitfeld der Geschichte heraus, eben weil es nur gegenwärtig und nah sein will.

Das photographische Bild hat selbstverständlich nirgends einen zeitlichen Anfang, eine zeitliche Mitte und ein Ende, es gibt kein bildliches Intervall, wie es ein narratives Intervall gibt. Soweit die Wahrnehmung von Geschichts-Zeit an die Wahrnehmung von zeitlichen Intervallen gebunden ist, kann das präsentische Photo-Bild die Erfahrung eines geschichtlichen Kontinuums nicht vermitteln.

Aber: Einerseits fesselt uns die punktuelle Botschaft des Photos immer wieder an den Gegenwartspunkt der Aufnahme, andererseits haben wir uns mit der Erscheinung des Albums daran gewöhnt, die einzelnen Bildpunkte in einer chronologischen Reihe linear wahrzunehmen und z.B. in einem Familien-Album die Gegenwartszeitstellen:

zu einer bürgerlichen Muster-Geschichte zusammenzustellen. In der Tat wird so der Bürger erstmals seiner eigenen Geschichte im Bild ansichtig, in dem er die Intervalle zwischen den Bildern linear-alphabetisch ordnet und als Zwischenzeit wahrnimmt. An der Empfänger (Betrachter)- Seite entsteht so für das neue Bild-Medien-System die Möglichkeit, das Verschwinden der Intervalle zu kompensieren. Die Imagination von 'Geschichte' kann gelingen über das Konstrukt der Bild-Punkt-Reihe - aber auch über eine beliebig auszudehnende Betrachtungszeit. Ich kann das noch unbewegte Photo-Bild als unmittelbares und gegenwärtiges Nah-Bild - z.B. eines längst Verstorbenen – wahrnehmen, kurzfristig berührt vom Chok des 'Authentischen' und der Präsenz, um dann doch in längerer oder wiederholter Betrachtung einen Zeitraum zu gewinnen für die 'Beschriftung' des Bildes: d.h. für die Einfügung des Punkt-Bildes in ein Tableau kultureller Zeichen und Verweise.

Genau dieser Zeitraum des 'Beschriftens' wird für das bewegte Bild der elektronischen Medien tendenziell zum Verschwinden gebracht. Verloren gehen damit die alten Intervalle der Lese-Zeit.

(Bild)-Lese-Zeit als Eigen-Zeit geht in dem Maße verloren als allein das technisch-elektronische Ablauftempo der Bilder unser Lese- und Betrachtungstempo bestimmt.
 

4.
Bildmedium: Film

Auf der Sender-Seite sind - zumindest bislang - im Produktionsprozess kreative Intervalle anzunehmen, die Drehbuch-Niederschrift von Darstellung und Verfilmung in unterschiedlichen Schritten - von Schnitt und Kopie etc. trennen. Doch die digitale Revolution des Kinos bahnt sich gerade an. Dabei geht es zunächst um die digital-elektronische Verbreitung und Präsentation von Filmen in jedem beliebigen Filmtheater der Welt via Satellit. Die Daten des eingescannten Films bewegen sich in Lichtgeschwindigkeit im Netz und können so ohne zeitliche Verzögerung aus dem Netz abgerufen und in Bilder auf der Leinwand rückübersetzt werden.

Wie und ob sich dieser totale Schwund externer Intervalle des Technisch-Distributiven auch intern niederschlägt - in der Botschaft selbst und auf der Empfänger-Seite - bleibt abzuwarten.

Das traditionelle Medien-System des Films jedenfalls trennt sich von seinen 'langsamen' mechanischen Anteilen, die noch ins 19. Jahrhundert zurückweisen, und gerät zunehmend in den Sog elektronischer Beschleunigung. Mit der Digitalisierung der Bilder wird der Film Abschied nehmen von der 'altehrwürdigen' Abfolge von 25 homogen "Einzel-Phasen-Bildern pro Sekunde, zugunsten des in Lichtgeschwindigkeit erfolgenden 25 bis 50maligen Auf- und Abbaus eines Punkt-Rasterbildes über ca.13 Millionen aufleuchtende und verlöschende Bild-Punkte pro Sekunde.

Doch kehren wir noch einmal zur 'alten' Film-Botschaft zurück: Der frühe Film verknüpft gewissermaßen die photographischen Augenblicke über die weiten zeitlichen Intervalle, die sich zwischen den Einzelbildern des Albums zur linearen Folge einer Geschichte dehnen. Das klassische Erzähl-Kino bleibt auf den ersten Blick ganz der literarisch-narrativen Ordnung der Zeiten und Intervalle verhaftet. In einem jeweils spezifischen Intervall-Svstem sind die für den Einzelfilm typischen zeitlichen Abstände zwischen den Einstellungen, zwischen den Sequenzen und Szenen entworfen. Das Intervall-System bestimmt das Zeitmaß, Tempo und Rhythmus des Films; das Intervall-System aber legt auch das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem im Film fest. Die Intervalle öffnen sich zum Unsichtbaren, zum Verborgenen der kollektiven Zeit, des kollektiven Raums, während die Intervall-überspringende Montage der Einstellungen und Sequenzen lediglich Bruchstücke einer 'individuellen' Handlungszeit und eines individuellen' Handlungsraums sichtbar werden lassen. Über diese Bruchstücke aber setzt sich für uns im Erzähl-Kino die Geschichte der Akteure zusammen: je weiter sich die Intervalle zwischen bestimmten Sequenzen dehnen, desto intensiver gerät die Darstellung des Unsichtbaren der verborgenen 'Schicksalszeit' eines Lebens, einer Epoche: so in Schlüsselszenen der Rückkehr des Helden nach Jahrzehnten der Abwesenheit , des Wiedersehens von Menschen, die sich geliebt haben. Gegenläufig zu dieser charakteristischen Thematisierung von Intervallen im Erzähl-Kino zeichnen sich frühzeitig die Versuche ab, über das filmästhetische Mittel der Parallel- oder Synchron-Montage die abstandslose Gleichzeitigkeit von mehreren Handlungsabläufen sichtbar zu machen. Im beschleunigten Wechsel der Bild-Einstellungen wird die Simultaneität der Handlungen und Fakten suggeriert. Simultaneität schließt das zeitliche Intervall aus, damit schwindet schon 'geschichtlicher' Raum zugunsten reiner Präsenz. Alles aber bleibt immer noch eingefügt in das Nacheinander der erzählten Geschichte und gebunden an das rein technische Nacheinander der Bild-Einstellungen auf dem 'Filmstreifen'.

Mit der Emanzipation aber von der 'erzählten Geschichte', von individueller Handlungszeit und individuellem Handlungsraum gewinnt das Avantgarde-Kino (von Goddard, Resnais', Kluge oder Wenders etc.) einen neuen Spielraum der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Vergangenheiten und Gegenwarten. Bilder unterschiedlichster Zeitstellen werden in Zeitraffung synchronisiert - mit anderen Worten - sie werden über die Auslöschung der zeitlichen Intervalle in dem Simultan-Tableau des Films zusammengestellt. Die unsichtbare Zeit der Intervalle wird getilgt oder wie man es auch sagen könnte, in die Sichtbarkeit des Gleichzeitigen, des Gegenwärtigen genötigt.

Im Mediensystem des (avancierten) Films (Resnais: Letztes Jahr in Marienbad) zeichnet sich somit erstmals deutlich jene Zeitfigur der Moderne ab, die sich dialektisch aIs Zusammenziehung der Geschichts-Zeit zur Gegenwarts-Zeit - und umgekehrt als Dehnung der Gegenwartszeit zum ganzen Raum der Geschichte zu erkennen gibt.

Mit der generellen Vergegenwärtigungs-Tendenz der Bild-Medien schrumpfen mit den Intervallen auch die Übergangs-Räume und –Zeiten, jene Transferstellen des 'Dazwischen' - voller Geheimnis, Abenteuer und Gefahr - aber auch der intensivierten Wahrnehmung.

Ohne Übergänge und Transfers sind wir der Dichte, der Nähe und dem Chaos des Gegenwärtigen ausgesetzt, noch ungeübt in beschleunigter Daten-Navigation. Die allerneusten Medien zeigen, daß es Übergänge irgendwo hin, in ein 'anderes' nicht mehr gibt. Wir sind immer schon am Ziel, im Hier und Jetzt.
 

5.
Bildmedien-System: Fernsehen

Für eine Live-Übertragung des Fernsehens ist die Vernichtung externer und interner Intervalle programmatisch und perfekt. Die Zeit von Ereignis, Aufnahme. Übertragung, Botschaft und Betrachtung ist quasi-identisch: Aufnahme- und Lese-Intervalle entfallen ebenso wie Intervalle der dargestellten Zeit. Der Sender befindet sich mit dem Empfänger ebenso an derselben Zeitstelle der Gegenwart wie das Ereignis der primären Wirklichkeit und seine Inszenierung als mediale Botschaft als Medien-Realität.

Im Unterschied zum Medien-System des Films betrifft die symbolische Distanz- und Intervall-Einbuße über die live-Inszenierung des alltäglichen und kontinuierlichen TV-Bildflusses unser Wirklichkeits-Verhältnis selbst. Mit der live-Botschaft des Fernsehens ereignet sich unsere Ankunft in der absoluten Immanenz des Hier und Jetzt. Übergänge, Aus- oder Eingänge bieten sich nicht an, Übergänge wohin? Eine andere Zeit als die vergegenwärtigte, ein anderer Ort als der gleichzeitig verortete scheint nicht zu existieren.

Anders als im Film befinden wir uns bei einer Fernseh-live-Sendung (nach Luhmann)4 in der Rolle eines Beobachters von Beobachtungen, die zeitgleich von einem anderen Beobachter an einem anderen Ort: in einer 'als Horizont vorausgesetzten Welt' gerade gemacht und technisch codiert übermittelt werden. Als Beobachter 2. Grades billigen wir den in der medialen live-Botschaft ver-/ übermittelten 'Beobachtungen' den Status des 'Konkreten' und 'Realen' insofern zu als wir davon ausgehen, daß sie sich als Abbild auf ein 'Ereignis beziehen, wie es sich gerade im Augenblick irgendwo im 'Horizont des Wirklichen' abspielt. Das ist eine Annahme, in der wir auch getäuscht werden können. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, daß Beobachtung und Beobachtung der Beobachtung - Abbild und Ereignis - Botschaft und 'reales' Referenzfeld im Entwurf von 'Medienrealität' zusammenfallen, ohne daß Intervalle den Übergang von einer Position zur anderen markieren. Die Lichtgeschwindigkeit der elektronischen Prozesse löscht alle Markierungen und Grenzziehungen, die noch im traditionellen Medien-System des Buches dafür gesorgt hatten, daß Intervalle den Prozeß kultureller Kommunikation systematisch unterbrachen. In diesem System der Intervalle waren die Zwischenräume für symbolische Orientierung, Unterscheidung und Beziehung gesichert. In der 'Medienrealität' scheinen wir dieser symbolischen Abstände und Distanzen verlustig zu gehen. Implosionsartig scheint das ganze System der Intervalle auf einen einzigen Punkt hin zusammenzustürzen. Der Fluchtpunkt medialer Inszenierung aber ist der gegenwärtige Augenblick, die Präsenz des audiovisuellen Bildes.

Im Gegenwartsfenster erscheinen die Tagesbilder der Nachrichten-Sendungen - und die Augenblicks-Bilder der live-Übertragungen - auf dieselbe Weise wie Bilder des Vergangenen im Replay oder im Zitat aus dem Speicher, und genauso wie neuerdings Bilder des Zukünftigen in einer Wettersimulation, immer nämlich übersetzt in die herrschende Zeitform des Präsens.

Medienrealität entwirft sich strikt präsentisch und behauptet sich als Schnittstelle der Zeiten als Interface der Zeiten.Unter der Überschrift: 'Vom Intervall zum Interface' vollzieht sich somit der Wandel von der literarischen Repräsentation geschichtlicher Zeit über Intervalle zur elektronischen Präsentation von Zeit im Interface.

Während das Intervall in die Tiefe des unsichtbaren Zeitraums verweist, verdichtet das Interface 'Zeit' auf der sichtbaren Oberfläche der Schirme.

Das Intervall thematisiert die Zeit als abwesend und verborgen. Das Interface inszeniert die Zeit als sichtbar anwesend im Netzwerk der Schnittpunkte.

In einer einzigen Nachrichtensendung des Fernsehens können sich somit in beschleunigter Montage unterschiedlichste Bilder, von unterschiedlichster Herkunft und von unterschiedlichstem Zeitstatus überschneiden, das Tempo der Montage und der Bild-Schnitte und die Verschiedenartigkeit der Bilder läßt die Wahrnehmung von Intervallen und damit von Geschichte oder Geschichten nicht zu. Unsere Wahrnehmung springt von Einstellung zu Einstellung, von Bildpunkt zu Bildpunkt. Die Bildpunkte und Einstellungen sind durch Schnitte getrennt, nicht durch Intervalle: Das elektronische Prinzip von Bildpunkt, Bildschnitt und Schnittfläche löst das literarisch-narrative Prinzip von Linearität und Intervall ab. Zu beobachten sind somit im Vergleich der Medien-Systeme - vom Buch zur Photographie, von der Photographie zum Film, vom Film zum Fernsehen - die mit dem zunehmenden Tempo der Kommunikations-Bewegungen verbundenen 'Zusammenziehungen', `Überschneidungen' oder 'Verdichtungen'; zeit-räumlich Außeinanderliegendes, in Zeit und Raum Getrenntes fällt schließlich in ein und demselben Feld der Gegenwart zusammen. Ereignete sich 'Schreiben' und 'Lesen' eines Textes zeitlich und räumlich an unterschiedlichen Punkten, so überlappen bei einer live-Sendung:

An diese Verdichtung, an diese Form simultaner Teilnahme haben wir uns gewöhnt. Mit großer Selbstverständlichkeit bewegen wir uns als Beobachter 2.Grades (wie Luhmann sagt) abstandslos in der Medienrealität und nehmen das mediale Abbild als unmittelbares Zeugnis eines Außen-Geschehens - oder mehr noch: das Abbild bürgt dafür, daß ein Ereignis 'real' ist und nicht umgekehrt, daß die 'Wirklichkeit' eines Ereignisses die 'Echtheit' des Abbildes garantiert.

Wie dem auch sei, das Moment der Gleichzeitigkeit des bewegten live-Abbildes und die Vorstellung, daß 'Wirklichkeit' über bestimmte Daten ihre 'reale' Spur im Bild hinterlassen hat, verleiten uns dazu, Bild und Sache ineinander übergehen zu lassen. Das mediale Abbild verdeckt damit den entscheidenden Abstand zwischen Zeichen und Sache/die Differenz von Symbol und Svmbolisiertem. Das mediale live-Bild "erhebt auf besonders eindringliche Weise den Anspruch, kein Zeichen zu sein" (Mitchell)5 - es "maskiert sich als natürliche Unmittelbarkeit" (Mitchell).6

Das mediale live-Bild eines Fußballspiels etwa läßt uns vergessen, daß wir es mit einer filmästhetisch und technisch hoch vermittelten künstlichen (ikonischen) Zeichen-Folge zu tun haben. Wir vergessen, daß - nach Eco - die gesamte Welt der Ereignisse, die ein TV-live-Film transkribiert, schon eine Zeichenwelt ist.

Aber daß wir es vergessen, hängt mit der Suggestion der Augenzeugenschaft zusammen. 'Konkret' berührt sich ein fernes Ereignis mit mir in der Zeit. Das mediale Erlebnis einer unmittelbaren Augenzeugenschaft über Bilder läßt sich somit auch deuten als lustvolle Einebnung symbolischer Differenz und symbolischen Abstandes.

Die lustvolle Entlastung vom Symbolischen aber kann jederzeit umschlagen in die Tyrannei der Nähe.

Die Kulturgeschichte läßt sich bekanntlich gerade als zunehmende Entlastung von der Nähe des 'Realen' über den Entwurf zunehmend komplexen symbolischer Zwischenwelten verstehen. Zwischen Natur und Mensch. zwischen Welt und Ich tritt das vermittelnde Reich der Zeichen und Symbole: der Bilder, der Sprache, der Schrift und der Zahl (Cassirer).7

Diese Zwischenwelt als Ordnung der symbolischen Intervalle befreite den Menschen vom Druck des Unmittelbaren und Nahen der natürlichen, bedrohlichen Umwelt.

Kehren wir medial in die Nähe der bedrohlichen Umwelt und Wirklichkeit zurück?
Suchen wir die vergebliche Unmittelbarkeit des 'Wirklichen' in der Aufgabe der symbolischen Differenz?
Zerstört - wie Aby Warburg es ausdrückt - "die elektrische Augenblicksverknüpfung" den vom mythischen und symbolischen Denken entworfenen Raum zwischen Mensch und Umwelt als 'Andachtsraum' und 'Denkraum'?8
Oder bedrohen uns unsere eigenen Konstrukte?

Dagegen ist festzuhalten, daß wir im medialen Bild immer nur partiell in die Nähe des 'Wirklichen' geraten. Über das Auge und über die Zeit - niemals über den Körper und den Raum. Während der zeitgleichen Beobachtung der Medien-Bilder einer im Horizont des Wirklichen sich gerade abspielenden Katastrophe z.B. - bleiben wir selbstverständlich körperlich und räumlich davon getrennt. Allein die Tilgung des zeitlichen Intervalls in der Übermittlung von Bildern des Geschehens (und nicht etwa von Schrift und Text zum Geschehens) simuliert Nähe.

Alles bleibt somit 'Wirklichkeit' in der medialen Inszenierungsform der Nähe und der Gleichzeitigkeit. Es erscheint paradox, gerade die hyper-symbolische Form des elektronischen Bildes ist es, die am Ende so etwas wie hoch-vermittelte Unmittelbarkeit erzeugt. Auf diese Weise setzt uns die 'symbolische Maschine' der Bedrohlichkeit der Welt wieder aus.

Die zerstörte 'Ferne' läßt die Welt - wie Warburg9 sagt – wieder ins Chaos zurücksinken.

So erreichen uns alltäglich - leitmotivisch - Nachrichten-Bilder des Todes, einer Katastrophe oder anderer existentieller Bedrohungen als nah, als gegenwärtig, live in Gleichzeitigkeit mit dem Augenblick der Betrachtung, im Sekundentakt der Bild-Schnitte und der Einstellungs-Folge.

Visuelle Ereignisse werden nach dem Neurophysiologen E. Pöppel im 3-Sekundentakt zu Wahrnehmungsgestalten zusammengefaßt. "Diese 3 Sekunden" - sagt er - "erfahren wir als Jetzt-Punkt der Gegenwart."10 In der Tat erreichen uns die Nachrichten-Einzelbilder in der Regel in diesem 3-Sekundentakt - und unsere Wahrnehmungsbewegung springt somit von Jetzt-Punkt zu Jetzt-Punkt - von Bild-Punkt zu Bild-Punkt. Zwischen Jetzt-Punkt und Jetzt-Punkt öffnet sich kein Intervall, weder für die Botschaft als beschleunigte Abfolge von Bild-Gestalten noch für den Empfänger. Hertha Sturm hat von "der fehlenden'Halbsekunde"11 gesprochen, die für eine Weiterverarbeitung der Bild-Gestalten vonnöten wäre. Anders ausgedrückt, die Beschleunigung hat jede Form von Intervall vernichtet, das semantische Intervall der Botschaft ebenso wie das kognitive Intervall der Rezeption. So erreicht uns das alltägliche leitmotivische Nachrichten-Bild des Todes oder der Katastrophe als plötzlicher Bild-Chok, der ein ebenso punktuelles Erschrecken auslösen kann. Der Bild-Chok blockiert in der Regel - ohne daß wir uns dessen immer bewußt sind - unsere Eigentätigkeit des Bedeutens und des Beschriftens des Bildes. Die 'Beschriftung' und 'Einordnung' des Bildes übernimmt in unseren Nachrichtensendungen bekanntlich der Sprecher oder Kommentator. Sprache und Schrift bannt immer noch den Schrecken des Bildes und versucht gegenüber dem Bildstrom des Weltgeschehens minimale Abstände zurückzugewinnen.

Der Dichte und Nähe 'elektronischer Wirklichkeit' begegnen wir mit der alten magischen Formel von Schrecken und Bannung.
 

6.
Im simulatorischen Raum von Computer-Animation, von Cyber-Space und Virtual-Reality setzt sich auf dramatische Weise die Vernichtung von Intervallen und Distanzen, die Verwischung von Grenzen und die Verdichtung auf den Augenblick als 'real-time' fort.

Wenn wir Intervalle auch beschrieben haben als Zwischenräume des Unbekannten, auch des Geheimnisvollen, des kreativen Übergangs in einen anderen Zustand als Zwischenräume, die sich in die Tiefe der Geschichte öffnen - zum unsichtbaren Raum der Welt... - so sind es gerade diese 'dunklen Stellen', die der Computer programmatisch tilgt und löscht. Der Computer zeigt sich als 'logische Maschine' die 'keine Undurchsichtigkeit' und 'kein Mysterium' (Couchot)12 duldet - 'nichts Dunkles oder Geheimnisvolles' (Bolter). 13

Nur was eindeutig verstehbar ist, ist berechenbar und kann Programm werden. Das Programm kennt keine Intervalle."Das elektronische Denken besteht aus einer (lückenlosen) Folge von Operationen in Abruf- und Ausführungsphasen" (Bolter)14; 'der im Programm enthaltene Satz von Befehlen zur Verarbeitung symbolischer Daten' wird Schritt für Schritt15 annähernd in Lichtgeschwindigkeit abgearbeitet. "Jedes Symbol, jeder Befehl (ist) so klar definiert und verständlich wie der nächste", "... nichts bleibt unbestimmt."16 Vor allem bleiben im Nanosekundentakt der Verarbeitung keine Leer- oder Übergangsstellen, keine unbestimmten Intervalle etc.

Wenn davon die Rede war, daß sich mit dem live-Fernsehen unsere Ankunft in der Immanenz des Hier und Jetzt zeige, so geht die logische Maschine noch einen Schritt darüber hinaus und verweist uns auf die reine Immanenz eines Modells von Wirklichkeit in einem 'rein symbolischen Raum' (Couchot)17 und in einer rein symbolischen Zeit.

Intervalle lassen die traditionellen Mediensysteme porös erscheinen, durchlässig und offen an ausgezeichneten Stellen für das Nicht-Sichtbare, das Nicht-Bezeichnete - für das Fremde, für den 'anderen Zustand'. Im logischen System des Computers bewegen wir uns in einer geschlossenen, endlichen Welt, in der alles in Sichtbarkeit überführt werden kann und alles bezeichnet ist und nichts unbezeichnet und fremd bleibt.

In den Simulationen schließlich des Computers erleben wir eine weitere Steigerung im Prozeß des Sichtbar-werdens des Unsichtbaren und der Vergegenwärtigung des Vergangenen und des Zukünftigen.Verfüge ich über eine ausreichende Daten-Basis, sind Ereignisse, Abläufe und Objekte - wie sie sich an irgendeinen Punkt der Vergangenheit abgespielt oder befunden haben - oder wie sie zukünftig als möglich vorgestellt werden - in Bild-Animationen darstellbar und wahrnehmbar.

Die altägyptische Tempelanlage von Karnak z.B. können wir heute in Luxor 'real' nur noch als Ruinenfeld besichtigen. In der Simulation ersteht, aufgrund eines die 'realen' Strukturdaten enthaltenden Rechenprogramms, vor unseren Augen das 'reale' Bild des Gewesenen unabhängig von der 'Realzeit' und dem 'Realraum'. Wir überspringen in der bloßen Wahrnehmung einen Zeitraum von ca. 3000 Jahren.

'Real' blicken wir in die Zukunft als unbestimmtes Feld 'reiner Eventualitäten'.18 In der Simulation kann - wiederum aufgrund eines Datensatzes - ein bestimmter Eventualfall durchgespielt und als Bild-Folge 'realisiert' werden.Vor unseren Augen entsteht jetzt das 'reale' Bild eines zukünftigen Automobils, eines zukünftigen Stadtraumes etc., aber auch 'reale' Bilder als visualisierte Ablauf-Strukturen von zukünftig möglichen Situationen, sei es auf technischem, flugnavigatorischem, militärstrategischem oder medizinischem Feld etc. Auch diese simulatorischen Bild-Szenarien entbehren der Verwurzelung in der uns vertrauten Ordnung der Zeiten und Räume. Die simulatorischen Szenarien entwerfen eine rein virtuelle Welt, in virtueller Zeit in einem virtuellen Raum (Couchot).19 Die Intervalle und Distanzen der 'realen' Zeit und des 'realen' Raum sind in der virtuellen Welt ganz und gar gelöscht, insofern als auch die noch so sehr an 'Realdaten' orientierte Flugsimulation für den Flugschüler (die Testperson) als Navigation im Datenraum und in der Daten-Zeit zu verstehen ist: im Datenraum sind beliebige 'Realräume': Flughäfen z.B. der Metropolen translokal abrufbar – und in der Datenzeit wird eine mögliche, zukünftige Katastrophensituation präsent.

Am deutlichsten wird das Phänomen reiner Virtualität von Raum und Zeit in Simulationen, die uns mittels Daten-Anzug in den künstlichen Bild-Raum des Cyber-Space selbst hineinversetzen: hier entfallen die Grenzen, die auch noch zwischen Schirmbild und Betrachter als Linien symbolischer Differenz - wenn auch schwach - Bestand hatten. Jetzt befinden wir uns abstandslos im Bild-Raum selbst.

Die virtuelle Zeit der Computersimulation ist in jedem Fall, ob es sich nun um Simulationen vergangener, zukünftiger oder nur möglicher Zustände handelt, "eine autonome Zeit ohne Referenz auf die Zeit der reellen Welt" (Couchot)20 Sie ist vergangenheitslos und zukunftslos und somit im strengen Sinn auch gegenwartslos – "eine Zeit außerhalb (des) Chronos: eine nicht-chronische Zeit" (Couchot)21 - und damit eine Zeit ohne Intervall.

Wenn bislang von medialer Vergegenwärtigung und von medialer Präsenz die Rede war, blieb der Gegenwarts-Begriff doch noch dem 'alten' Schema der Zeiten verhaftet. Die 'neue' synthetische Zeit der Simulation verhält sich gegenüber den traditionellen Zeitdimensionen vollkommen indifferent. Ob die Simulation eines Prozeßbildes sich auf einen vergangenen, zukünftigen oder nur möglichen Ablauf bezieht, ist für die algorithmische Erzeugung vollkommen gleichgültig. Entscheidend ist die Daten- und Rechengrundlage.

Für eine 'nicht-chronische Zeit' ohne Intervall haben wir im herkömmlichen Sinn noch keinen Begriff. Das ist der Punkt, an dem die bisherige Verlust-Rechnung umschlagen könnte in eine Sichtung des kulturellen Gewinns.

Der fortschreitende Verlust des 'alten' kulturellen Intervalls ist dann der Preis für den Gewinn einer ganz neuen Zeitvorstellung, zumindest einer Zeitvorstellung, die sich vom Begriff einer extensiven-linearen Zeit löst zugunsten einer intensiven, nicht-linearen Zeit. In intensiver Zeit erfahren wir - wie Virilio es ausdrückt - eine neue "Vertiefung des Augenblicks".22 (Nietzsche hatte gewarnt vor der gegenwarts-vergessenen Versenkung ins Bloß-Vergangene - Heine vor der Zukunfts-besessenen Opferung des Gegenwärtigen.)

Ob Virilios Raum-Metapher der 'Vertiefung' (des Augenblicks) der richtige Ausdruck ist für die zu beobachtende Erscheinung medialer Zusammenziehungen, Verdichtungen oder Implosionen, wäre zu fragen. Daß die in der 'Tyrannei der Nah- und Abbilder' verlorene 'symbolische Differenz', als verlorener symbolischer Abstand gerade über das nicht-mimetische, virtuelle Bild der Simulation wiederzugewinnen ist, scheint nicht unwahrscheinlich.

Gerade diese Virtualität konstituiert sich - nach Kerkhove - als neues "Intervall zwischen dem Projekt und seiner Realisierung."23 Daß die Endlichkeit des logischen Raums eines Computers uns an die Endlichkeit und Kurzfristigkeit unserer gesellschaftlichen und kulturellen Programme überhaupt erinnert, bleibt zu hoffen. Es könnte den Abschied bedeuten vom Gedanken eines 'unendlichen geschichtlichen Progresses' und es könnte die Ankunft bedeuten in einer dichten, intensiven Jetzt-Zeit, die ganz neue symbolische und ästhetische Freiheits-Spielräume - jenseits der Schrift – eröffnet, Freiheiten allerdings, die es 'real' zu verteidigen gilt gegenüber dem stets begierigen Verwertungsinteresse der Monopole.

Anmerkungen

1 Menninghaus, Winfried: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt 1986.
2 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie, Frankfurt 19769.-S. 71.
3 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt 1989. S. 95 - S. 99.
4 S. 14f. S. 18, S. 152ff.; Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 19962.
5 Mitchell W.J.T.: Was ist ein Bild? – in: Bildlichkeit, Hrsg. Volker Bohn, Frankfurt 1990 - S. 56.
6 Mitchell, W.J.T.: a.a.0. S. 56.
7 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen - 2. Teil - Das mythische Denken, Darmstadt 19949 - S. 31.
8 Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin 1988 - S. 59.
9 Warburg, Aby: a.a.0. S. 59.
10 Pöppel, Ernst: Eine neurophysiologische Definition des Zustands 'bewußt' – in: Gehirn und Bewußtsein, Hrsg. E. Pöppel, Weinheim 19S9 - S. 29.
11 Sturm, Hertha: Wahrnehmung und Fernsehen - in: Media Perspektive 1, 1984 - S. 58-65.
12 Couchot, Edmont: Zwischen Reellem und Virtuellem: Die Kunst der Hybridation - in: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwert, Hrsg. Florian Rötzer/Peter Weibel, München 1993 - S. 345.
13 Bolter, David: Der digitale Faust. Philosophie des Computer-Zeitalters, Stuttgart/München 1990 - S. 205.
14 Bolter, David: a.a.0. S. 95.
15 Bolter, David: a.a.0. S. 265.
16 Bolter, David- a.a.0. S. 265.
17 Couchot, Edmont: a.a.0. S. 343.
18 Couchot, Edmont: a.a.0. S. 344.
19 Couchot, Edmont: a.a.0. S. 343.
20 Couchot, Edmont: a.a.0. S. 343.
21 Couchot, Edmont: a.a.o. S. 344.
22 Virilio, Paul: Rasender Stillstand, München 1992 - S. 78, 74.
23 de Kerckhove, Derrick: Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, München 1995 - S.183.
 

LITERATURVERZEICHNIS

BARTHES (1989): Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt.
BENJAMIN (1976): Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, Frankfurt.
BOLTER (1990): David Bolter: Der digitale Faust. Philosophie des Computer-Zeitalters, Stuttgart/München.
CASSIRER (1994): Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen - 2.Teil - Das mythische Denken, Darmstadt.
COUCHOT (1993): Edmont Couchot: Zwischen Reellem und Virtuellem: Die Kunst der Hybridation - in: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, Hrsg. Florian Rötzer/Peter Weibel, München.
DE KERCKHOVE (1995): Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, München 1995.
LUHMANN (1996): Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen.
MENNINGHAUS (1986): Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt.
MITCHEL (1990): W.J.T. Mitchell: Was ist ein Bild? – in: Bildlichkeit, Hrsg. Volker Bohn, Frankfurt.
PÖPPEL (1989): Ernst Pöppel: Eine neurophysiologische Definition des Zustands 'bewußt' – in: Gehirn und Bewußtsein. Hrsg. E. Pöppel, Weinheim.
STURM (1984): Hertha Sturm: Wahrnehmung und Fernsehen - in: Media Perspektive 1.
VIRILIO (1992): Paul Virilio: Rasender Stillstand, München.
WARBURG (1988): Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht, Berlin.

Seitenanfang
Zur Übersicht 1