Zeitpraktiken: Das vielschichtige Wechselspiel von Technik und Zeit

Daniela Ahrens

 Abstract
Technik garantiert weder Zeitgewinne noch Zeitverluste. Die Techniken gewinnen ihre Eigenschaften erst in der Anwendung. In diesem Aufsatz wird über die Zusammenhänge von veränderten Zeitpraktiken, Umgangsweisen mit Technik und Lebensstilfiguren nachgedacht. Diese Lebensstilfiguren bezeichnen idealtypische Umgangsformen mit Technik, sie heißen:

· der technikfaszinierte Wellenreiter
· der kommunikationsbesorgter Skeptiker
· der zeitjonglierende Spieler

 

Zeitpraktiken: Das vielschichtige Wechselspiel von Technik und Zeit
I. Einleitung

Der folgende Vortrag soll einen Beitrag leisten, dem widersprüchlichen Verhältnis von Technik und Zeit nachzuspüren. Die dominante Denkfigur, mittels Technik letztendlich die Vorherrschaft im Kampf mit der Zeit zu gewinnen, stößt angesichts wachsender Zeitprobleme und der gleichzeitigen Entwicklung immer raffinierterer und aufwendigerer Technik zunehmend an ihre Grenzen. Angesichts der Tatsache, daß wir in unserer High-Tech-Gesellschaft von einem Park von Beschleunigungs- und Zeiteinsparmaschinen umgeben sind und uns dennoch in Zeitnöten verfangen, aus denen uns eigentlich die technischen Geräte retten sollten, können wir nicht länger davon ausgehen, daß "eingebaute" Zeitansprüche der Technik als eindeutige Disziplinierungs- und Kontrollinstrumente des sozialen Lebens herangezogen werden können. Gerade die modernen Informations- und Kommunikationstechniken scheinen in ihren Zeitbezügen "Spiel" zu lassen. Sie machen deutlich, daß Technik per se weder Zeitgewinne noch Zeitverluste, weder Beschleunigung noch Zeitdehnung, weder Synchronisation noch Entkopplung, weder Zukunftssicherung noch Zukunftsverunsicherung garantieren kann. Von daher ist mit neuen Varianten zu rechnen, die das Verhältnis von Technikeinsatz und Zeitgestaltung neu gewichten und konfigurieren.

In unserer am Institut für Soziologie durchgeführten Studie über "Zeitpraktiken" (vgl. Hörning/Ahrens/Gerhard 1997) haben wir die uns so alltäglich gewordenen Zeitumgangsformen in der technologischen Gesellschaft untersucht. Unser Ziel war es, die sich derzeit vollziehenden Umbrüche in den Zeitstrukturen aufzuspüren, d.h. zu untersuchen, wie sich die moderne Zeitvorstellung, die sich mit der Industrialisierung herausgebildet hat, unter dem Druck der Spätmoderne erneut ändert, und welche Rolle besonders die neuesten Kommunikationstechniken mit ihren neuen Ansprüchen, neuen Problemen und neuen Forderungen dabei spielen.

Wir haben daher in unserer Studie das immer schon in spezifischer Weise gedachte Technik-Zeit-Verhältnis analytisch aufgelöst und begreifen Techniken als anwendungsoffen und temporal uneindeutig. Unsere These ist, daß Techniken ihre Eigenschaften erst in der Anwendung gewinnen, d.h. durch Aktualisierung und Nutzung ihrer oft vielfältigen Verwendungspotentiale und "Geschehensmöglichkeiten". Erst die konkreten Praktiken bringen die Eigenschaften hervor, die wir so gerne als "feststehend" und "vorliegend" begreifen. Erst in der alltäglichen Nutzung zeigt sich, in welcher Weise mit technischen Geräten Zeit in Anspruch genommen und verfügbar gemacht wird, ob die Technik der Zeitersparnis oder der Zeitverbringung, der Beschleunigung oder Dehnung von Zeit dient, ob sie zur Inszenierung von Erlebniszeiten oder zu Experimenten mit technisch ermöglichter Verzeitlichung eingesetzt wird. Auf diese verwickelte - und nicht eindimensionale - Weise ist Technik an der Konstitution von Wirklichkeit beteiligt und belegt in wechselnder Gestalt einen Platz im Alltag. Unsere empirische Untersuchung hat diese Zusammenhänge von veränderten Zeitpraktiken, Technikumgangsweisen und sozialen Kommunikationsverhältnissen herausgearbeitet (vgl. Hörning/Ahrens/Gerhard 1996). Anhand dreier Figuren zeigen wir auf, wie sich Zeitpraktiken mit bestimmten technischen und kommunikativen Umgangsweisen zu unterschiedlichen Bedeutungsgeweben verdichten und wie über die so hergestellte Ordnung ein spezifischer Wirklichkeitsentwurf ausgeformt wird.

Die im folgenden vorgestellten Figuren machen das facettenreiche Wechselspiel, die verschiedenen Weisen der Verknüpfung von Technik und Zeit deutlich: Der "Wellenreiter", der gemäß seiner begeisterten Techniknutzung eine dezidiert zeitökonomische Praxis und eine auf Informationsübertragung zentrierte Kommunikation ausbildet; der "Skeptiker", der sich in einer technikabwehrenden Haltung übt, die sich aus seinem idealistisch aufgeladenen Kommunikationsverständnis speist, aber immense Zeitkosten einfordert und schließlich der "Spieler", der entsprechend seines ereignisorientierten Zeitumgangs Technik als Möglichkeitsgenerator ausformt.

 
II. Empirie
Der technikfaszinierte Wellenreiter: Technik als faszinierendes Objekt: Leistungssteigerung und Tempospaß

In der ersten Figur, die wir "technikfaszinierten Wellenreiters" genannt haben, wird der Technik eine hervorgehobene Bedeutung zugeschrieben. Diese Figur, die uns als Fortschrittstypus mehr oder weniger bekannt ist soll hier in ihrer Anordnung genauer vorgestellt werden.

Die Technik avanciert zu einer exponierten Größe, von der man sich uneingeschränkt faszinieren und herausfordern läßt. In ihrer Perfektion und Wirksamkeit überzeugt sie als zuverlässiges Kontroll- und Ordnungsinstrument, auf das vertraut wird, um die Anforderungen des modernen Alltags zu bewältigen. Dieser zielgerichteten kontrollierten Technikaneignung geht eine ebenso wohlüberlegte Anschaffung voraus. Was durch die Technik bewirkt werden soll, steht immer schon fest. Im folgenden Zitat wird deutlich, inwiefern die möglichen Formen der Aneignung bereits mit der Anschaffung spezifiziert und festgelegt werden: "Ich hab' mir überlegt, daß der Anrufbeantworter unheimlich nützlich ist. Aus dem Grund hab' ich mir den gekauft, damit ich endlich weiß, wer mich erreichen wollte. Da können die Leute sich nicht mehr rausreden und behaupten, 'ich hab' dich nicht ereicht'. Um das zu umgehen und mehr Ordnung und Struktur in meinen Tagesablauf zu bekommen und eben immer und zu jeder Zeit prinzipiell zu wissen, was wo anliegt, hab ich gedacht, o.k. jetzt kommt ein Anrufbeantworter ins Haus, dann wußte ich eben wirklich, wer mich tatsächlich erreichen wollte." Die Technikfaszination gründet sich darüber hinaus auf die Bereitstellung der leistungsstarken Potenzen der neuen Kommunikationstechniken. Ihr Einsatz erfolgt ziel- und zweckgerichtet, im Glauben daran, einen immer perfekteren Output, immer größere Zeitgewinne und immer umfassendere Informationen zu erlangen. Unablässig strebt man danach, über die neuesten, weil leistungsstärksten technischen Geräte zu verfügen. Die Teilnahme an der technischen Entwicklung wird quasi zur selbstauferlegten Verpflichtung, denn schließlich ist sie der Garant, angesichts des angezogenen Lebenstempos an schnell wechselnden Moden und Neuigkeiten partizipieren zu können. Dabei werden die positiven Veränderungen durch die Technik in ihrer Bedeutung für die Lebensführung explizit hervorgehoben. Die Technikanschaffung markiert quasi einen "Sprung nach vorn". "Die Möglichkeiten des Computers haben mir unendlich viel gegeben. Das ist eine kolossale Arbeitserleichterung mit dem Computer, weil man mit rasender Geschwindigkeit die Korrespondenz erledigen kann." Der Einsatz des Computers bedeutet eine Leistungssteigerung. Es lassen sich sichtbare und meßbare Erfolge ausweisen: Das eigene Arbeiten wird präziser und effektiver. Durch die Techniknutzung wird eine größere Perfektion und Geschwindigkeit erreicht: Per Knopfdruck, quasi im handlungslosen Vollzug, können jetzt die Prozesse schnell und effektiv gestaltet werden. Charakteristisch für diese Lebensstilfigur ist seine über die Technik hinausgehende "Kultivierung des Neuen". Aktualität und Neuheiten stellen für ihn normative Verbindlichkeiten dar, an denen es teilzunehmen gilt. Dabei besitzen Neuheiten immer Priorität gegenüber dem Bisherigen, dem Althergebrachten. So ist man ständig bemüht, die neuesten, weil leistungsstärksten Geräte zu besitzen.Dabei besitzen Neuheiten immer Priorität gegenüber dem Bisherigen, dem Althergebrachten. In der Suche nach aktuellen Trends, permanent damit beschäftigt, nichts zu verpassen und ständig "auf der Höhe der Zeit" zu sein, ähnelt dieser Typus einem "Wellenreiter".

Die Nutzungsspirale von Zeit

Der hohe Stellenwert, den die Technik in dieser Figur besitzt, ist untrennbar verbunden mit einer streng ökonomisch ausgerichteten Zeitpraxis. In der Technik sieht der "Wellenreiter" das bewährte Mittel schlechthin, Zeit einzusparen, zu verdichten, störende Zeitdifferenzen zu überbrücken und starre Zeitzwänge zu überwinden. Die Zeit wird analog zum Geld als eine rechnerische Größe und knappe Ressource verstanden, die es gewinnbringend zu bewirtschaften und zu verwerten gilt. In diesem Zeitverständnis wird Zeit als eine Kalkulationseinheit begriffen, die ergebnisorientiert verplant wird. Es wird eine ausgefeilte Zeitdisziplin ausgebildet, um die als äußerst kostbar und knapp erachtete Ressource Zeit rationell zu verwerten. Strategien der genauen Zeitplanung und -einteilung dienen der Vermeidung von Leerzeiten und der vorausschauenden Zukunftssicherung.

Diese Zeitpraxis ist an quantitativen Kriterien orientiert. Zeit wird in den Begriffen eines Zuviel oder Zuwenig an Zeit verhandelt. Die Frage des erfolgreichen Zeitumgangs wird immer mit Blick auf die investierte Zeitdauer entschieden wird. Ob die Zeit effektiv verwendet worden ist oder nicht, richtet sich nach der Dauer, die man für die zu bewältigenden Aufgaben benötigt. Es gilt, möglichst viel in wenig Zeit unterzubringen. Mit anderen Worten: Je kürzer der Zeitaufwand für bestimmte Tätigkeiten, desto "sinnvoller" ist die Zeitnutzung. In diesem quantitativen Zeitverständnis bestimmen sich die Leistungen weniger an den hergestellten oder ausgeführten Inhalten als an dem für sie notwendigen Zeitaufwand.

Der Anspruch, die Zeit möglichst effektiv zu nutzen, fordert dem "Wellenreiter" ein hohes Maß an Zeitdisziplin ab. Der hohe Verpflichtungsgrad, die Zeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, führt zu einem strengen Einteilen und Einsparen des kostbaren Investitionsgutes Zeit: "Also ich steh' zehn vor sechs auf, und ich bin froh darum, also dann höre ich im Bett noch Nachrichten, dann mache ich Gymnastik, zuerst Beingymnastik im Liegen, und dann lese ich um viertel nach sechs die Zeitung, dann hab ich 'nen Block dabei, dann guck' ich von oben bis unten durch, was gibt es, und dann setz' ich mich anschließend hin und speichere ein (in das Videogerät), mach' mir Frühstück, ja und das dauert dann auch bis acht Uhr, und dann geh' ich erst ins Bad, dann hab' ich Tee getrunken, und dann kann ich wenigstens kalt duschen, ne also man muß sich das so kramen.". Es wird möglichst genau festgelegt, was wann zu tun ist. Eine Zeitpraxis, die die Zeit immer wieder aufs Neue an Inhalte bindet, jede Zeitstelle ausfüllt, prägt den Alltag auf eine Weise, daß dieser sich durch eine hohe Strukturdichte auszeichnet. Der Alltag des "Wellenreiters" erscheint als ein gegenwärtig ausgefülltes und zukünftig abzuarbeitendes Zeitprogramm. Er entwickelt fest institutionalisierte Rituale, die in ihrer wiederkehrenden Form Sicherheit bieten und die Komplexität möglicher Entscheidungsalternativen und Handlungsmöglichkeiten reduzieren. So werden etwa zeitliche Marksteine errichtet, die als ordnende Elemente wirksam werden. Zum Ritual erhoben, würde der Verzicht eines derartigen Tagesbeginns gleichsam einem Verlust von Ordnung nahe kommen.

Der "Wellenreiter" aktualisiert ein genaues Timing, das sich an den Kriterien der Pünktlichkeit und Stetigkeit orientiert. Möglichst kein Zeitabschnitt wird unbestimmt gelassen: "Ich habe also die Möglichkeit, hiermit (mit dem Anrufbeantworter) Ansagen zu machen. Ich habe also gesagt, ich bin zu Hause. Dann stelle ich aber fest, ich muß nochmal kurz weg, Zigaretten holen, dann kommt da eine Ansage drauf, es ist jetzt 19.10 Uhr, um 19.20 Uhr bin ich wieder zu Hause. Mit dieser Kurzansage verhalte ich mich korrekt. Ich erhalte meine Glaubwürdigkeit."

Die Kehrseite dieser Zeitpraxis ist denn auch das Verbot, Zeit verstreichen zu lassen, "Zeit zu verlieren", Zeit "zu verplempern". Es gilt, fortlaufend tätig zu sein. Dieser Zeitumgang steht unter dem Diktat der permanenten Verwendung und Verwertung. Dieser Umgangsform droht die Gefahr, die Zeit "auf Teufel komm 'raus" mit Aktivitäten auszufüllen: "Ich hab' immer so viel zu tun, und wenn ich nichts tun muß, muß ich was lesen, und von daher spiele ich nicht. Ich weiß nicht, wie Leute meinen, ihre Zeit damit zuzubringen." Formen des Zeit"erlebens", bedeutet Zeitverschwendung und ruft Unverständnis sowie Ablehnung hervor. Denn diese Art der Zeitverbringung widerspricht aufs Heftigste seinem Imperativ, der sinnhafte Zeitverwendung an immerwährendes Tätigsein zu binden.

Die Engführung der Kommunikation auf Information

Die auf Effektivität ausgerichtete Techniknutzung und Zeitverwendung ist weiterhin mit einer spezifischen Kommunikationspraxis verknüpft. Die Denkfigur, durch Technik letztendlich die Vorherrschaft im Kampf mit der Zeit zu gewinnen, wird gestützt von einer Kommunikationspraxis, die die Komplexität des Kommunikationsgeschehen ausblenden muß. Für den Wellenreiter ist die Technik im Sinne der Vereinfachung, Verkürzung und Beschleunigung von Kommunikation einzusetzen. Kommunikation soll auf eine standardisierbare, formalisierbare und quantifizierbare Größe reduziert werden. Der "Mehrwert" der neuen Kommunikationstechniken wird darin gesehen, daß sie die Übertragung und den Austausch sachbezogener Information vereinfachen. Mußte bisher ein mitunter hoher Aufwand betrieben werden, um Kommunikation "am Laufen zu halten", ist jetzt der gezielte Zugriff auf Informationen möglich. Im folgenden Zitat kommt dies pointiert zum Ausdruck: "Man verplaudert nicht mehr soviel Zeit über Unwesentliches, sondern der Anrufbeantworter komprimiert die Informationen. Nehmen wir einmal an, ich erhalte einen Anruf von 'ner ausgemachten Quaaktasche, und die hat 'ne kleine, aber wichtige Information, dann kommt dieses ganze Gesülze: Wie geht's, was machste, wie war's Fliegen, wie sieht's bei der Arbeit aus? Bla bla bla! Irgendwann am Ende kommt die dann endlich auch mal auf den Punkt." Es steht für den Wellenreiter außer Frage, daß mit dem Einsatz von Technik ein Mehr an Leistungsfähigkeit und Effizienz von Informationsflüssen erreicht wird. Es wird eine neue Leichtigkeit und Mühelosigkeit der Kommunikation erfahrbar, in der über Raum- und Zeitdifferenzen hinweg Informationen verlustlos übertragbar und akkumulierbar werden. In seiner Wertschätzung dieser Praxis blendet der "Wellenreiter" die Komplexität des Kommunikationsgeschehens aus. Daß Informationen immer auch mitgeteilt und verstanden werden müssen, davon geht er als selbstverständlich aus.

Chancen und Risiken des Wellenreiters: Neue alte Kontrollücken

In dem unersättlichem Drang nach Neuem, der alles, was gerade noch aktuell war, wieder entwertet und die Suche nach Neuem von vorn beginnen läßt, leistet dieser Typus einen maßgeblich Beitrag zur Etablierung neuer Technik im Alltag. Der "Wellenreiter" ist Wegbereiter technischer Innovationen. Durch seine auf Formalität und Quantifizierung ausgerichteten Strategien macht er Probleme handhabbar und treibt Entscheidungen voran. Er begründet die moderne Fortschrittsdynamik, die ohne die weitreichende Technisierung der Gesellschaft kaum denkbar ist. Auf der anderen Seite ist dieser Typus mit seiner spezifischen Technikfixierung relativ "engstirnig".

Seine Technikverhaftung wird besonders in Krisensituationen problematisch. So erscheinen etwa Kommunikationsschwierigkeiten nur durch eine technisch ermöglichte schnellere und effizientere Übertragung von Informationen lösbar. Dementsprechend fordert er die Ausbildung einer "kommunikativen Disziplin", um den Kommunikationprozeß an die technischen Bedingungen anzupassen. Ebenfalls werden Zeitengpässe in erster Linie mittels eines verstärkten Rückgriffs auf technische Hilfsmittel zu überwinden versucht. Man hält sich mit ein und derselben Operationsweise "auf Kurs", ohne zu erkennen, daß mitunter gerade diese spezifische Nutzung von Technik die Problemsituationen herbeiführt. Sein Zeitmanagements wird so auf einer neuen Stufe weitergetrieben, ohne die Begrenztheiten des rein quantitativen Zugriffs auf Zeit zu sehen. Mit seiner Engführung auf einen rein rechnerischen Zeitumgang verfängt sich der "Wellenreiter" zunehmend in seinen selbstgefertigten, verfeinerten Zeitplänen und Zeiteinteilungspraktiken. Die eingesparte Zeit wird immer wieder einsetzt, so daß man letztlich kaum mehr über zeitliche Spielräume verfügt. Man nimmt sich damit die Möglichkeit, flexibler über Zeit zu disponieren.

Das Vertrauen darauf, Zeitknappheit und Informationslast mit Hilfe der Technik in den Griff zu bekommen, erweist sich somit als trügerisch. In der Ausrichtung auf Technik als Problemlöser kommt es zu neuen "alten" Zeit- und Kommunikationsproblemen. So erweitern zwar die neuen Techniken als "Archive der Information" das Gedächtnis und erlauben, Informationen zu lagern, um sie bis zu ihrer Bearbeitung verfügbar zu halten. Gleichzeitig aber steigt mit den technisch bereitgestellten Verarbeitungskapazitäten der Auswertungsbedarf von Information. Die gespeicherten Informationen beanspruchen Aufmerksamkeit, und wenn es nur für die Entscheidung ist, das Informationsangebot zu ignorieren. Es entsteht ein "Berg von Datenmüll", respektive ein Mehraufwand an Zeit, um die Menge an Informationen zu sortieren. Mit der Abrufbarkeit von Information, dem "Griff in die Vergangenheit", wird keinesfalls per se die angestrebte größere Planungs- und Entscheidungssicherheit gewährleistet. Im Gegenteil, man muß damit rechnen, daß die angesammelten Informationen nicht nur schneller veralten, sondern daß sich auch ihr Informationsgehalt von Situation zu Situation ändert.

Der kommunikationsbesorgte Skeptiker - Eine Gegenfigur

Die zweite zentrale Lebensstilfigur haben wir "kommunikationsbesorgten Skeptiker" genannte. Dies verweist bereits darauf, daß hier die Kommunikation die zentrale Rolle spielt. Die face-to-face-Kommunikation wird als entscheidend für die Herstellung von Intersubjektivität und Verständnisabsicherung gehalten.Der Pflege sozialer Beziehungsnetze und der Aufrechterhaltung von Kontakten zu Freunden und Bekannten wird ein hoher Stellenwert eingeräumt. Der "kommunikative Skeptiker" sucht, wenn möglich, den persönlichen Kontakt, das persönliche Gespräch und begegnet in kommunikativen Aushandlungsprozessen Personen und ihren Intentionen mit großem Bedeutungsernst. In seiner Vorstellung von Kommunikation als dem Band, das die Menschen verbinden und zusammenhalten soll, wird Kommunikation eng an soziale Integrationsprozesse gekoppelt. Kommunikation wird für den "Skeptiker" zum Integrationsmoment schlechthin. Personen und ihre kommunikativen Intentionen stehen im Vordergrund. Sie sind als Träger und Initiatoren gleichsam Anfangs- und Endpunkte der Kommunikation: "Da möchte jemand mit d i r sprechen. Es geht einzig und allein um den persönlichen Aspekt, um das Sprechen mit jemandem, der einen erreichen will. Ich kann's jetzt eigentlich gar nicht in'ner Vokabel zusammenfassen, aber um'ne Information geht's da überhaupt nicht. Das ist 'n Wort, das da nicht reinpaßt."

Die hohe Bedeutung der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht führt zu einer skeptischen Haltung gegenüber Technik. Man befürchtet, daß durch die heute immer perfektere Technisierung der Kommunikation die soziale Kommunikation zunehmend anonymisiert, verzerrt und letztendlich verdrängt wird. So ist der "Skeptiker" der Meinung, daß das Filtern von Kommunikationsangeboten mittels Technik unzulässig sei, weil es die Chancen, an Kommunikation teilzunehmen, ungleich verteilt. "Wenn ich von der Arbeit komme, dann mach ich sofort den Anrufbeantworter aus, nicht so wie 'ne Freundin von mir, die das Gerät ständig im Einsatz hat und dadurch auch 'ne Auswahl haben will." Situationen, die sich mit dem Anrufbeantworter ergeben, werden als "ver-rückte" abgelehnt, denn "wenn man sich die Anrufe aussuchen kann, wo kommen wir denn dann hin. Nee. Menschen, die einen ganz persönlich ansprechen, abzuwimmeln und zu sagen, ich geh' zwar ans Telefon, aber jetzt merk' ich, daß du es bist, und mit dir will ich jetzt nicht reden, das ist schwierig. Das führt ja zu 'ner ganz fatalen Geschichte, bei der ich mir ganz schrecklich vorkomme." Technik wird zum "Störer" und "Verhinderer" sozialer Kommunikationsverhältnisse und intakter Sozialbeziehungen. So erscheint Technik hier nicht als Problemlöser, sondern als Problemgenerator: Die Eigenlogik des rasanten technischen Wandels, die zu immer enger werdenden zeitlichen Vernetzungen führt, droht letztendlich die zwischenmenschliche Kommunikation als Basis natürlicher und vernünftiger Sozialverhältnisse zu ruinieren. Im folgenden Zitat wird deutlich, daß der "Skeptiker" es eben nicht als Fortschritt werten kann, wenn neue Techniken in der Absicht eingesetzt werden, sich Kommunikation zu "ersparen": "Die Technik knüpft Dialoge? Ich glaub' eher, daß sie einem Leute vom Halse hält. Wenn ich so z.B. darüber nachdenke, wie die Leute durch den Anrufbeantworter filtern lassen, dann bedeutet dies doch eine Rückwärtsentwicklung. Mehr Dialog kommt dadurch mit Sicherheit nicht zustande!"

Die störende Technik und ihre Domestizierung

Technische Geräte finden deshalb nur unter Vorbehalt und sehr eingeschränkt Verwendung. "Skeptiker" fordern, sich der Motivation zur Anschaffung und Verwendung bewußt zu sein, denn nur ein reflektierter Umgang ermöglicht, den Verführungen durch die Technik zu entkommen. Aus seiner Wertschätzung der zwischenmenschlichen Kommunikation heraus formuliert der "Skeptiker" Kriterien für einen "sozialverträglichen" Technikeinsatz. Ältere Techniken, denen er einen stärkeren "kommunikativen Charakter" zuschreibt, werden allgemein bevorzugt. Da jede technische Neuerung eine Abnahme des Persönlichkeitsgrades der Kommunikation bedeutet, zieht er etwa den Briefkontakt dem Telefongespräch, das Telefongespräch dem Anrufbeantworter vor: "Also ich les' wesentlich lieber Briefe, als mir was auf dem Anrufbeantworter anzuhören, weil es einfach 'ne andere Note, einen anderen Charakter hat. Der Anrufbeantworter ist nicht besonders sinnlich. Dieser Kommunikation fehlt etwas Persönliches." Die Aufwertung vorangegangener Technikformen korrespondiert mit der Nichtinanspruchnahme der "neuen" Qualitäten von Technik. :Man ignoriert, daß Informations- und Kommunikationstechniken eine neue Stufe in der Technikentwicklung darstellen: "Ich würde sagen, der Computer ist nicht unbedingt ein neues Kommunikationsmittel, sondern mehr so'ne Kopie, einfach 'ne Weiterentwicklung von 'ner Schreibmaschine."

Typisch für diesen Lebensstil ist, daß die Technisierung und die Entwicklung menschlicher Kommunikationsverhältnisse als ein Nullsummenspiel betrachtet werden, so daß eine ständige Abgleichung von technischem Bedarf und sozialen Belangen stattfindet. Es wird der Anspruch vertreten, eine reflektiert dosierte Nutzung einzuüben oder gar in bestimmten Situationen generell auf Technikeinsatz zu verzichten.

Die Forderung nach Entschleunigung und "sinnvoller" Zeitverbringung

Die Technik "stört" nicht nur die Kommunikationsverhältnisse, sondern auch einen sinnvollen Umgang mit Zeit. Sie steht im Verdacht, vorgegebene Ziel- und Zwecksetzungen zu verfehlen und unvorhergesehene Effekte heraufzubeschwören, deren Lösungen wiederum Zeit beanspruchen. Technische Artefakte sind für ihn Ausdruck, Symbol und Vehikel spezifischer zeitlicher Prinzipien. Die technischen Geräte werden als die Zeitgeber des modernen Lebens schlechthin angesehen: "Es dürfte sich nicht noch mehr überschlagen und noch schneller werden, noch gekürzter. Es wird dann so manches verkürzt, gekürzt, so eingedickt. Das ist in erster Linie wegen den vielen neuen technischen Geräten, das ist auch nicht immer das Gute." Die Zeitimperative der Technik schaffen zeitliche Bedingungen, die die Lebensverhältnisse beherrschen. Die neuen Informations- und Kommunikationstechniken zwingen den Menschen in noch verschärfterem Maße und subtilerer Form als bisherige Techniken ihre Zeiten auf. Sie treiben Geschwindigkeiten alltäglicher Vorgänge auf die Spitze, sie entgrenzen bestehende soziale Zeitordnungen, und sie drücken dem Zeitgefüge des Alltags ihren Stempel des Jederzeit-Verfügbaren auf. Sie treiben Geschwindigkeiten alltäglicher Vorgänge auf die Spitze, sie entgrenzen bestehende soziale Zeitordnungen, und sie drücken dem Zeitgefüge des Alltags ihren Stempel des Jederzeit-Verfügbaren auf: "Ich habe dieses Allzeitbereit irgendwo satt, weil das führt nur noch dazu, das man ansprechbar wird, ungeachtet dessen, was man gerade macht."

"Skeptiker" wollen sich mit den aus ihrer Sicht "fremdgesetzten" Zeitnormen der Technik nicht ihre selbstbestimmte Werteordnung durcheinanderbringen lassen. Das gestiegene Lebenstempo sowie der permanente Aktualitätsdruck konterkarieren ihre Intention, Zeit "sinnvoll" zu verwenden. Tempo, Hektik und Eile sind für sie die Erzfeinde, die die Sinnfundamente ihres Lebensstils über kurz oder lang ruinieren. In ihrer Forderung nach Technikverzicht bzw. dosierter Techniknutzung sehen sie die Möglichkeit für eine "Ent-" statt "Be-schleunigung" der Lebensverhältnisse. Sie plädieren für "Tempodiät". Entgegen dem typisch modernen Tempostreben und Aktualitätsdrang kommt es zum Honorieren von Zeitaufwand. Nicht Schnelligkeit und Tempo, sondern Langsamkeit und Beharrlichkeit werden angestrebt. Sorgfältige Zuwendung und intensive Beschäftigung stehen im Vordergrund. Statt der Kultivierung des "Immerneuen" läßt man sich nur in sorgfältiger Auseinandersetzung mit Bewährtem auf Neues ein.

Zeitaufwand als Indikator für Bedeutsamkeit

Sein Abwägen von Technikeinsatz und gelungenen Sozialverhältnissen erfordert eine spezifische Zeitpraxis. Seine Form der Kommunikation, die auf Anwesenheit und Verständigung setzt, muß unterstellen, daß Zeit - selbst wenn sie knapp ist - eigentlich immer ausreichend vorhanden ist. Die eigensinnige Form, Zeit für kommunikative Aushandlungsprozesse besonders extensiv einzusetzen, ist ihm so selbstverständlich geworden, daß er die von seinem Lebensstil geforderten Zeitkosten ebensowenig in Rechnung stellt, wie die zu leistenden Vorbedingungen bei der Herstellung gemeinsamer physischer Anwesenheit: "Also ich fühl mich dann wichtig, wenn jemand auch vielleicht zehnmal versucht, mich zu erreichen, auch ohne Anrufbeantworter. Aber wenn jemand da einmal auf den Anrufbeantworter blubbert, 'ruf' mal zurück', was heißt das?! Das ist ja nichts Wichtiges, das läßt keine Rückschlüsse zu, ob ich jetzt der Person was bedeute oder nicht."

Zeit zu haben, bedeutet, die Wertschätzung und Bedeutsamkeit des Anderen auszudrücken. Neben dem Honorieren von Zeitaufwand als Indikator für Bedeutsamkeit, werden Gelassenheit und Tempodiät trotz aller damit verbundener Schwierigkeiten praktiziert, denn schließlich gilt es, der modernen Informationsgesellschaft, in der Hetze, Geschwindigkeitswahn und Aktualitätsfanatismus herrschen, den Spiegel vorzuhalten. Dies führt mitunter dazu, daß der "Skeptiker" das technisch Mögliche zurückschraubt und damit die Bedingungen wechselseitiger Erreichbarkeit künstlich verschärft: "Es ist unglaublich, aber ich weigere mich, den Anrufbeantworter, den mein Mann da hingebaut hat, zu benutzen. Wenn ich nicht da bin, bin ich eben nicht da, und die Leute sollen probieren, mich zu finden oder nicht. Entweder möchte mich jemand erreichen, der wird mich erreichen, oder wenn er's bleiben läßt, läßt er's bleiben. Das dürfte für keinen ein Hinderungsgrund sein, und wenn er das nicht schafft, man kann mir schreiben, oder man kann mich besuchen."

In ihrem Argwohn gegenüber allem Neuen widersetzen sich Skeptiker Moden- und Epochenwechsel und der in der Moderne stattfindenden Kultivierung des immer Neuen. Nur in sorgfältiger Abwägung mit Vergangenem läßt man sich auf Neues ein. Erst wenn hinreichende, das Neue legitimierende Bewertungskriterien aufgestellt sind, erscheint Neues einbindbar. Skeptiker wollen nicht aus dem Gewohnten und Erprobten herausgerissen werden und beklagen - wie im folgenden Zitat deutlich wird - im Rückblick auf frühere Techniken etliche Verluste beim Einsatz neuer Techniken: "Ich schreibe lieber auf der Schreibmaschine als auf den Computer. Beim Computer habe ich nie mehr den Text in seiner Gesamtheit vor Augen. Ich werde nervös, wenn ich nicht mehr durchstreichen kann und das nicht mehr sehen kann, was da ursprünglich stand. Das werden dann so sterile Texte, die zwar perfekt, aber nicht aus dem Prozeß entstanden sind."

Aufgrund seiner Wertschätzung einer personenbezogenen Kommunikation von Angesicht zu Angesicht gewinnt der "Skeptiker" eine kritische Distanz zur Technikentwicklung. Es gelingt ihm, deutlich zu unterscheiden, welche Formen der Techniknutzung zu bevorzugen und welche als gefährlich zu verwerfen sind. "Skeptiker" können Kritikpotentiale freisetzen und dasjenige, das durch seinen störenden Charakter auffällt, benennen, bearbeiten und womöglich "bändigen". Mit der Herausstellung der negativen Technikfolgen markieren sie quasi die andere Seite des "Wellenreiters". In diesem Gegenentwurf verschaffen sie sich Distanz zu einer als Fortschritt begriffenen Technikentwicklung.

Neue alte Kommunikationszwänge

Am Lebensstil des "Skeptikers" läßt sich zeigen, daß die technisch ermöglichte Ausdehnung kommunikativer Erreichbarkeit mit neuen Problemen einhergeht. Mit der Verbreitung der modernen Techniken sind die Bedingungen gegeben, über Raum- und Zeitdifferenzen hinweg zu kommunizieren. Kommunikation ist aber durch die Etablierung einer technischen Infrastruktur nicht nur in erweiterter Form verfügbar, sie wird auch in zunehmendem Maße vorausgesetzt, sprich: zugemutet. Die Weigerung der "Skeptiker", Kommunikationstechniken zu benutzen, gerät unter massiven Erklärungsdruck. Denn sind die Kommunikationsmöglichkeiten erst einmal durch die technischen Geräte installiert, bergen sie quasi die Verpflichtung, sie auch in Anspruch zu nehmen. Technische Geräte nicht zu benutzen oder ihre Funktionszeiten zu unterbrechen, verletzt neue Kommunikationsnormen und führt zu Problemen.

Der "Skeptiker" führt uns ein in weiten Kreisen der Gesellschaft existierendes Phänomen vor: Die uneingestandene Verpflichtung zur sozialen Kommunikation. Der typisch hohe Kommunikationsdruck, mit der Schwierigkeit, nicht Nicht-Kommunizieren zu dürfen, ist als unausgesprochenes Erwartungsmoment weitverbreitet. Gerade das im Lebensstil des "Skeptikers" normativ aufgeladene Kommunikationsverständnis verschärft diese Situation. In seiner einseitigen Konzentration auf den Problemlöser "Kommunikation" bleibt unberücksichtigt, daß Kommunikation selbst problembehaftet ist und mitunter problemgenerierend wirkt. Sein explizit formulierter Kommunikationsimperativ zwingt ihn zu einer permanenten Kommunikations- und Verständigungsbereitschaft. Er untersagt auf der einen Seite, das Zustandekommen von Kommunikation selbst als Störung zu betrachten, und verhindert auf der anderen Seite das Nichtzustandegekommen von Kommunikation für den weiteren Kommunikationsprozeß als möglicherweise wertvoll anzusehen.

Die Möglichkeitsorientierung des zeitjonglierenden Spielers

Demgegenüber ist in der dritten Lebensstilfigur des "zeitjonglierenden Spielers" die Zeit die zentrale Orientierungsgröße. Dadurch ergibt sich die Chance, eine bislang ungewöhnlich hohe Sensibilität für Zeit zu entwickeln. Zeit dient dem Spieler weder als rein zeitökonomische Ressource noch geht es ihm um eine ausschließlich sinnvolle Zeitverbringung. Zeit wird vielmehr in konsequenter Weise von den Fragen nach ihrer Verwendung gelöst und damit als eigenständige Problembearbeitungsdimension "freigelegt". Angestrebt wird die Verfügung über freie Zeit, sozusagen die Schaffung von zeitlichen Spielräumen. Diese gilt es offen zu halten, um in der Zeit über Zeit disponieren zu können. Zeitliche Bezüge werden auf diese Weise in zunehmendem Maße variabel und neu kombinierbar. Man erhält erweiterte Möglichkeiten, im Moment auftretende Gelegenheiten wahrzunehmen und flexibel zu nutzen. Der "Spieler" ist bestrebt, starre Zeitroutinen, festgesetzte Zeitbindungen und eingeschworene Zeitbahnen zu verlassen, um sich für Ungeplantes und Unvorhergesehenes bereit zu halten: Priorität ist, wenn man so will, daß ich meinen Tagesablauf so spontan wie möglich angehen kann; natürlich mache ich auch Termine und verabrede mich, aber es ist alles so, daß ich auch mal was umschmeißen kann. Dieses Beharren auf den klassischen Zeiten ist nur hinderlich. Früher war das ganz anders. Da war mein Wochentimer und dann alles schön in Halbstundentakten eingeteilt. Jetzt kann ich spontaner auf Sachen zugehen. Das ist ein gutes Handling." Bevorzugt werden keine sicheren, sondern eher reversible Lösungen, um eine Anpassung an eine Realität zu ermöglichen, die anders ausfällt als erwartet. Dabei bildet er besondere Kompetenzen im Umgang mit Überraschungen und Umschaltenkönnen, aus. Er entwickelt eine Orientierung, die explizit Ungenauigkeiten und Unschärfen bei der Planung zuläßt und sich auf diese Weise eine Beweglichkeit für Umdispositionen erhält: "Die Herausforderung sehe ich heute darin, auch mal abwarten zu können, was passiert. Oder den anderen einfach mal machen zu lassen, ohne immer gleich dazwischen zu funken. Wenn ich versuche, immer alles genau abzuchecken und zu kontrollieren, dann ärger ich mich am Ende nur, daß alles ganz anders gekommen ist." Statt Eventualitäten durch eine exakte Vorausplanung "vorwegzunehmen", versucht der "Spieler" sich ad-hoc auf sie einzustellen. Störungen, wie Ungleichzeitigkeiten, Unabgestimmtheiten und Diskontinuitäten werden nicht als Anomalien beklagt, sondern als Normalität betrachtet und flexibel einbezogen.

Kommunikation als Spiel mit Differenzen

Resultat dieser ereignisorientierten Zeitform ist die Zurücknahme der bedeutungsmächtigen Kommunikation und Technik, die die anderen Lebensstile auszeichnet. Mit seiner eigenwilligen Form der Teilnahme an Kommunikation distanziert sich der "Spieler" sowohl von einer informations- als auch von einer personenbezogenen Kommunikationsweise. Entscheidend sind ihm die spezifischen kommunikativen Anschluß- und Vernetzungsmöglichkeiten. Die Frage, wer kommuniziert oder was kommuniziert wird, rückt in den Hintergrund. Stattdessen interessiert ihn, wie auf einen Kommunikationsbeitrag reagiert und wie er verarbeitet wird. Damit löst der "Spieler" sich nicht nur von den Zwängen der Informationsakkumulation eines "Wellenreiters", sondern auch von den Verpflichtungen des "Skeptikers" zur ständigen sozialen Kommunikationsbereitschaft. Angestrebt wird eine Kommunikationskombinatorik, in der vielfältige Themen und Beiträge aufgegriffen und verknüpft werden. Man "bastelt" sich seine eigenen Sinnwelten und Sinnverknüpfungen, um diese vielleicht im nächsten Moment wieder umzuarrangieren. Der "Spieler" betreibt eine Art des "Vagabundierens" durch ein hochdynamisches kommunikatives Sinngeschehen, was durch die Möglichkeiten der modernen Informationstechnik in erheblichen Maße unterstützt wird. Im Spiegelkabinett der Kommunikation, in dem von Moment zu Moment andere Themen und andere Figuren in anderen Bedeutungsnetzen, mit anderen Bedeutungszuschreibungen auftauchen, wird Kommunikation für den "Spieler" zu einem Abenteuer: "Das läuft immer nur sehr kurz, so'n Spruch auf dem Anrufbeantworter. Ich würd den nie zwei oder drei Wochen drauflassen. Ich hab gemerkt, das macht enorm viel aus. Einmal hab ich mir jemanden geholt, der lupenreines Platt gesprochen hat. Wenn du so'ne Ansage auf dem Anrufbeantworter hast, dann werden die Leute animiert. Dann haben die auch Lust drauf zu sprechen, und es ist total aufregend, was da so alles zusammenkommt."

Spieler nutzen die selbsterzeugte Schnellebigkeit der Kommunikation. Das Kommunikationsgeschehen wird als ein frei flottierender Markt von Informationen behandelt. Im Zuge dieser Kommunikationsdynamik kommt es zu einem "Verwischen" bisheriger Grenzziehungen. Indem man Kommunikationsmöglichkeiten aus öffentlichen und privaten Bereichen vernetzt, hat die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre an Stellenwert verloren. Die jederzeit technisch anschlußfähige und verfügbare "private" Zeit und die neuen Möglichkeiten des Einschaltens in die "öffentliche Zeit", etwa der Mediennetze, eröffnen dem Spieler eine zusätzliche Dimension zur Inszenierung und Präsentation seines Lebensstils: "Durch die Mailbox hab ich direkten Kontakt zu Leuten, die ich so persönlich gar nicht kenne, und das geht bis nach Japan und Finnland. Dadurch ist schon richtig 'was in Gang gekommen."

Der Zugriff auf einen verfügbaren Pool von Informationen, die für die Art des "Spielers" zu kommunizieren, eine Voraussetzung darstellt, wird durch die modernen Techniken unterstützt. Die technisch gestützte Fernkommunikation sowie die zeitversetzte Kommunikation ermöglichen erst das Jonglieren mit Kommunikationselementen. Wenn die Jetzt-Zeit von der unmittelbaren Reaktion entlastet ist, kann der "Spieler" sein Kommunikationsspiel erst voll entfalten.

Die entpathetisierte Techniknutzung

Auf den ersten Blick ist dabei erstaunlich, daß der "Spieler" seinen Einsatz von Technik als Selbstverständlichkeit inszeniert. Für ihn ist Technik weder "faszinierendes Objekt" noch "Störer". Der Technik selbst widmet er kaum Aufmerksamkeit. So zeichnen sich seine Motivationen zur Anschaffung technischer Geräte durch eine extreme Offenheit aus, was die anvisierte Nutzung angeht. Die technischen Geräte sind eher eine angenehme Ergänzung bisheriger Möglichkeiten. Die Rolle der Technik erscheint als entdramatisiert, entproblematisiert und "entpathetisiert": "Den Computer habe ich schon seit längerem. Ich finde es einfach spannend, auszuprobieren. Es wird sich zeigen, was man damit machen kann."

In dieser Formvariante hört die Technik auf, aus sich heraus Benutzern eine Verwendungslogik aufzudrängen. Der "Spieler" läßt sich nicht von den in die Technik "hineinkonstruierten" Umgangssweisen disziplinieren. Technische Geräte sind vielmehr eine Art Würfel, über die weitere Erlebnismöglichkeiten zu verwirklichen sind. Dies steht in krassem Gegensatz zu herkömmlichen Technikbildern, die auf die Planbarkeit, Regelmäßigkeit und Beherrschbarkeit von Technik abstellen: "Ich hab gemerkt, es ist das Zufällige daran, daß ich so schätzen gelernt habe. Daß man nicht weiß, was dann und dann genau passiert, daß man sich spontan auf 'ne Situation einlassen muß und sie auch gemanagt kriegt und sich oft daraus höchst ernstzunehmende Chancen ergeben. Eine absolute Sicherheit, die absolute Kontrolle darüber, wer mit dir in Kontakt treten kann, will ich gar nicht anstreben."

Technische Artefakte werden als eine Art Zufallsgenerator geschätzt. Daß sie Unregelmäßigkeiten, Unbestimmtheiten, Unplanbarkeiten in den Alltag bringen, wird nicht als unangenehme Störung und Ablenkung betrachtet, sondern wird erwartet, ist geradezu gewollt. Technische Geräte fungieren in diesem Zusammenhang denn auch nicht länger als Zeitbeherrschungs- und Kontrollinstrumente, sondern eher als "Möglichkeitsgeneratoren". Sie sind für den "Spieler" ein wie selbstverständlich zur Verfügung stehendes Reservoir, das sich situativ, je nach Bedarf und Umständen, aktualisieren läßt. Auf diese Weise eingesetzt, bieten sie Gewinne hinsichtlich der für äußerst wichtig erachteten Zeitflexibilität. So ist beispielsweise die reversible Form fixierter Information mittels der neuen Techniken die Voraussetzung für "Ad-hocings". Seine offene Technikaneignung ermöglicht ein Jonglieren unterschiedlicher Zeitformen und unterstützt die Ausgestaltung von Eigenzeiten. Mit seiner eigenwilligen Einbindung von Technik und damit einhergehenden experimentellen Nutzungsformen gelingt es, gegenüber den "großen Entwürfen" von Technik Gelassenheit zu demonstrieren. Seine ereignisorientierte Zeitpraxis wie seine Kommunikations"kombinatorik" sind darauf angewiesen, daß die Aneignung von Technik offen bleibt und mit Gelassenheit stattfindet.

Das Dilemma einer Möglichkeitsorientierung: Neue alte Zeitverstrickungen

In seinem Offenhalten von Zeitbindungen unterschätzt der "Spieler", daß sein Lebensstil mit der Orientierung an Situativität auf eine funktionierende Alltagszeit angewiesen bleibt. In seiner Ereignisorientierung, die Zeitbindungen scheut, läuft er Gefahr, die Beständigkeiten und die Behäbigkeiten, die trotz der erheblichen Dynamisierung und trotz des gestiegenen Lebenstempos den Alltag auszeichnen, nicht genügend zu berücksichtigen. Der "Spieler" kann sich seine ereignisorientierte Zeitpraxis nur leisten, weil er sich von der vermeintlichen Bedeutungsmacht der Technik löst. Daß er aber auf eine Technik angewiesen bleibt, die ihm in immer schnellerer Abfolge die Vielfalt und die Dichte der Ereignisse erst zuspielt, gerät dabei all zu leicht aus dem Blick.

 
III. Fazit

Ausgangspunkt unserer Studie war die Problemdiagnose, daß die Auseinandersetzungen mit der Zeit in unserer Gesellschaft einen Schwellenwert erreicht haben, der bisherige Umgangsweisen mit Zeit massiv unter Druck setzt. Fortschritts- und Tempoideologien sind brüchig geworden, das Vertrauen in den Chronos ist entschwunden, die Zukunft wird immmer mehr als unsicher, als riskant, erfahren und kann nicht mehr umstandslos als Projektionsfläche für Problemlösungen dienen. Andererseits sind auch die Gegenentwürfe zur Entschleunigung der Lebensverhältnisse problembehaftet. Die Hoffnungen, alles ließe sich doch in vernünftiger Weise planen und regeln, wenn man den Dingen nur genügend Zeit läßt, erfüllen sich nur in Ansätzen. Sich das Lebenstempo nicht aufdiktieren zu lassen, sondern Zeit sinnvoll und sorgfältig zu gestalten, stellt sich selbst als ein zeitaufwendiges Unterfangen heraus. Angesichts der vielfältigen Zeitstile, die immer weniger unter einen Hut zu bringen sind, werden diese herkömmliche Strategien der Ent- und Beschleunigung immer heftiger attackiert. Sie erweisen sich letztendlich als zu unflexibel, in dem Sinne, daß unsere unbeständige Zeit mit einem Potential an Wechselfällen, Überraschungen, Umbrüchen und Verkehrungen aufwartet (vgl. Sichtermann 1988)..

In der Gegenüberstellung der drei Figuren gewinnen wir sowohl Aufschlüsse über die Grenzen gängiger Zeitpraktiken und die Problematik bisheriger Techniknutzung wie auch über neue Möglichkeiten der Technik-Zeitmoderation. Wir haben aufgezeigt, daß die mittlerweile klassisch zu nennende instrumentelle Technik- und Zeitnutzung des "Wellenreiters" angesichts der komplexen Zeitverhältnisse an ihre Grenzen stößt. Seine Rolle als Trendsetter, die er einmal eingenommen hat, erscheint vielfach gebrochen. Gerade weil die Etablierung einer Fortschrittsdynamik gelang, gerade weil die Tempoideologien sich recht konsequent installieren ließen, gerade weil Operationen in kaum wahrnehmbaren Zeitintervallen durchgeführt werden können, wird der Nutzen rein quantitativer Zeitgewinne zusehends marginal. Angesichts einer Fülle von Alternativen wird es immer aufwendiger und riskanter, eine strenge Zeitdisziplin durchzuhalten. Je mehr Informationen gespeichert, je schneller Informationen übertragen werden, desto schwieriger wird es, ihre Bedeutungen "über die Zeit zu retten".

Demselben Schicksal unterliegt der Typus des "kommunikationsbesorgten Skeptikers", der immer wieder und unermüdlich von seinen Ansprüchen auf eine gelungene menschliche Kommunikation getragen, auf die Risiken und die Gefahren von Technik hin weist. Der Technik wird nicht nur ihre Rolle beim Kampf mit der Zeit abgesprochen, sondern sie wird - quasi diametral entgegengesetzt - zum Verhinderer funktionierender Sozialverhältnisse und zum Störer sinnvoller Zeitverbringung, den es zu bändigen, zurückzudrängen und zu domestizieren gilt. Sein ständiges Abwägen von Technikeinsatz und gelungenen Sozialverhältnissen, sein Kommunikationsstil, der Zeit extensiv für kommunikative Aushandlungsprozesse einsetzt, ist ihm derart selbstverständlich geworden, daß er die immensen Zeitkosten kaum mehr in Rechnung stellt. Zeit zu "entschleunigen", "sich Zeit zu nehmen", ist dem "Skeptiker" äußerst bedeutsam: Gelassenheit und Tempodiät werden trotz aller damit verbundener Schwierigkeiten praktiziert. Je selbstverständlicher aber diese kritisch gemeinten Strategien angewendet werden, desto mehr laufen sie Gefahr, zu einer Art "Kritikroutine" zu werden. Kritisch zu sein und es "anders-machen-zu-wollen" als die "unkritischen" Anderen, ist für den "Skeptiker" eine nicht mehr zu kritisierende Praxis. Vorgestellt als die einzig richtige, weil "beste" Lösung wird diese Strategie- entgegen seiner Absichten - zu einer eingespielten Haltung, die ähnlich wie die zeitökonomischen Intensivierungsstrategien des "Wellenreiters", durchgehalten werden muß.

So zeigen die Figuren des "Wellenreiters" und des "Skeptikers" auf, wie uns die technischen Geräte, die uns eigentlich zeitlich entbinden sollten, nicht selten in immer neue Zeitnöte verwickeln. Der "Wellenreiter" gibt den Glauben an die Problemlösungskompetenz der Technik nicht auf; dies bindet ihn ans Gerät und verwickelt ihn in dessen Programme. Der "Skeptiker" trägt seine Kommunikationsideale auch noch in die Welt der technischen Geräte und bleibt damit trotz aller Technisierung an seine alten Zeitprobleme gebunden.

Der "Spieler" bringt die Verunsicherungen im Zeitumgang, die die Einführung neuer Techniken begleiten, anders in Form. Er, der nicht länger die Funktionstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit der Technik in den Vordergrund stellt, der ebenfalls nicht länger Technik in ihrer Konkurrenz zu sozialen Verhältnissen zum Thema macht, vermag sich in einer anderen Art und Weise auf die zeitlichen Aspekte zu konzentrieren. Bei ihm wird die Zeit von den Imperativen der Technik wie auch von den Idealen zwischenmenschlicher Kommunikation "gelöst" und zu einer eigenständigen Problemlösungsdimension. Im Gegensatz zu den bisher vorherrschenden Versuchen, sich in der Zeit zu orientieren, praktiziert der "Spieler" eine Ordnung durch die Zeit. In diesem Zeitumgang geht es nicht mehr nur darum, wie Zeit zu nutzen, zu füllen, sinnvoll zu verbringen ist, sondern darum, in der Zeit über Zeit zu disponieren.. In einer nach vorne und hinten offenen Zeitlichkeit verschafft sich der "Spieler" durch selbsterzeugte Zeitbezüge seine Orientierung. In einer solchen Zeitorientierung wird bewußt, daß die in der Zeit changierenden Zeithorizonte nicht vorgegebene, sondern "gemachte" sind. Der "Spieler" will sich nicht mehr vorschreiben lassen und sich selbst nicht mehr vorschreiben, was, wann, wie schnell und warum und wozu zu geschehen hat. Er will sich nicht mehr auf eine Verzeitlichungsform festlegen lassen, sondern stets wissen, daß er Zeit für eigene Dispositionen hat.

Das bisherige Reden über neue Techniken, über ihre Implikationen für die Zeitverhältnisse hat mit seinen eingespielten Interpretationsschemata bislang den Blick auf diese unspektakuläre Zeitpraktiken verstellt. Vorschnelle Verknüpfungen lesen spezifische Implikationen in die Technik hinein und vermögen so letztlich nur noch aus einer engen, technikzentrierten Perpektive nach Veränderungen zu fragen. Was nicht registriert wurde, sind die eigenständigen Verknüpfungen, wie sie im Alltag entwickelt und funktionsfähig gemacht werden. Die technologische Szenerie, wie sie sich im gängigen Diskurs präsentiert, lebt im Grunde von der Ausblendung der dritten Figur. "Wellenreiter" und "Skeptiker" wollen den "Spieler" nicht ernstnehmen. Sie grenzen ihn als "versponnen" oder gar "gefährlich" aus und übersehen dabei, daß gerade er ihre eigenen Begrenztheiten durch seine Respektlosigkeiten gegenüber dem "Immer Neuem" und "Eigentlich Eigentlichem" zu überwinden vermag. Diese bisher unbeachtete aber nicht minder bedeutsame Figur des "Spielers" übernimmt als eine Art variety-pool in der Situation des Umbruchs womöglich die Last der Alternativen. Er, der weder der Technikfaszination erliegt noch der Technikskepsis verhaftet ist, markiert quasi einen dritten Weg.
 

Literatur
Elias, N. (1984), Über die Zeit, Frankfurt am Main
Hörning, K. H./D. Ahrens/A. Gerhard (1997), Zeitpraktiken. Experimentierfelder der Spätmodern, Frankfurt am Main
Dies. (1996), Vom Wellenreiter zum Spieler. Neue Konturen im Wechselspiel von Technik und Zeit, in: Soziale Welt 47, S.7-24
Sichtermann, B. (1988), "Wechselfälle" - Perspektiven im Zusammenhang der Arbeitszeitverkürzung, in: Zoll, R. (Hg.), Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt am Main, S.641-655

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