George W. Bush wird in ganz besonderer Weise mit Religion in Verbindung gebracht,
und zwar mit einer ganz bestimmten religiösen Gruppe in den USA, den sog.
"wiedergeborenen" Christen, auch Evangelikale genannt. Ein großer
Teil dieser evangelikalen Christen will sich nicht damit zufriedengeben, anderen
den eigenen Glauben zu vermitteln, d.h., zu missionieren und das Evangelium
zu verkünden, sondern stellt auch klare politische Forderungen. In den
letzten zweieinhalb Jahrzehnten haben sich Organisationen gebildet, die die
Interessen konservativer evangelikaler Christen in der politischen Arena der
USA vertreten. Diese Organisationen bilden zusammen mit ihrer "Klientel"
die sog. "Religiöse Rechte" - wobei "rechts" hier für
einen starken Wertekonservativismus steht, der aber gepaart ist mit einer ausgesprochen
libertären Haltung, wenn es um wirtschaftliche Fragen geht. Die Religiöse
Rechte ist also eine politisch aktive soziale Bewegung, die sogenannte "intermediäre"
Organisationen herausgebildet hat, d.h. Organisationen, die zwischen einer breiten
Trägerschaft einerseits und den politischen Institutionen andererseits
vermitteln.
Die bekanntesten und einflussreichsten dieser Organisationen sind momentan die Christian Coalition (ursprünglich gegründet von dem bekannten Fernsehprediger Pat Robertson) und der Family Research Council, der wie ein "Think Tank" arbeitet, also auch politikberatend tätig ist. In den 80er Jahren hieß das politische "Schlachtschiff" der Religiösen Rechten Moral Majority.
Zunächst muss man wissen, dass die Bewegung ihren Ursprung im amerikanischen protestantischen Fundamentalismus hat und schon lange existiert. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich aus dem Evangelikalismus heraus eine fundamentalistische Strömung entwickelt, die vor allem das Ziel hatte, gegen Teile der damals einsetzenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse zu kämpfen. Ich betone: gegen TEILE, denn die Fundamentalisten haben nicht prinzipiell etwas gegen Städtewachstum, Industrie, oder gegen moderne Medien. Sie haben aber etwas gegen einen Bedeutungsverlust der Bibel - und die Bibel war in den USA bis kurz nach der Jahrhundertwende der zentrale Ratgeber in allen Lebensfragen, öffentlichen wie privaten. Und sie haben etwas gegen die moderne Vorstellung, der Mensch allein könne entscheiden, was moralisch richtig und was falsch ist.
Fundamentalismus - und konservativer Evangelikalismus - stellen eine Verteidigungshaltung dar. Man will etwas, das früher - vermeintlich - dagewesen ist, vor fundamentalen Veränderungen schützen. So muss man aktuelle Lamentos über den Zerfall der amerikanischen Familien, den Werteverfall usw., der aus dieser Richtung zu hören ist, verstehen. Für Angehörige dieser Bewegung ist der gegenwärtige Zustand der Gesellschaft vor allem krisenhaft. Eine krisenhafte Wahrnehmung der Gegenwart gehört zu den zentralen Merkmalen von religiösem Konservativismus und Fundamentalismus.
Man muss außerdem wissen, dass die Religiöse Rechte keineswegs ein Unterschichtsphänomen ist. Wenn man Bildungsgrad, Einkommen und Wohnsituation anschaut, stellt man fest, dass sich diese Bewegung sehr heterogen zusammensetzt und ihre Hauptträgerschaft in der amerikanischen Mittelschicht hat. Geographisch verteilt sie sich mittlerweile über die gesamten USA, früher konzentrierte sie sich allerdings in den großen Städten im Norden und mittleren Westen - was logisch ist, denn dort waren die Modernisierungsprozesse nach der Jahrhundertwende am stärksten zu spüren. Die Religiöse Rechte ist also nicht nur kein Unterschichtsphänomen, sie ist auch keine ländliche, "hinterwäldlerische" Erscheinung.
Schaut man sich die Schriften, Reden usw. von Vertretern der Bewegung an, fällt auf, dass die Begriffe "Freiheit" und "Demokratie" auffallend häufig vorkommen. Besonders Freiheit ist ein herausragendes Thema; die Bewegung scheint sich beständig Gedanken darüber zu machen, wie Amerikas Freiheit erhalten werden kann in Angesicht der verschiedenen diagnostizierten Krisen. Auch die Verfassung als solche hat ein enorm hohes Ansehen; sie erscheint als etwas Unantastbares, unbedingt zu verteidigendes. Die Religiöse Rechte ist klar verfassungspatriotisch orientiert. Und an vorderster Stelle der Errungenschaften steht für sie der Erste Verfassungszusatz, der die Religions- und Gewissensfreiheit schützen soll. Es ist ein Irrtum, die Religiöse Rechte wolle die formale Trennung zwischen Kirche und Staat aufheben; sie steht in der Tradition der ersten Siedler, welche in Europa religiös verfolgt worden waren und die Religionsfreiheit in den Verfassungen der Einzelstaaten als Menschenrecht verankerten.
Es ist also nicht so, als gäbe es in den USA auf der einen Seite liberale freiheitlich-demokratische und verfassungsorientierte Kräfte und auf der anderen religiöskonservative antifreiheitliche, verfassungsfeindliche. Die liberalen Kritiker der Religiösen Rechten stellen das gerne so dar, tun sich selbst damit aber keinen großen Gefallen, denn dieses Bild geht am Kern der Sache vorbei.
Was die Religiöse Rechte von liberalen Kreisen unterscheidet, ist die Vorstellung davon, was Freiheit ist bzw. was die Grundlage von Freiheit ist. Liberale verstehen unter Freiheit in allererster Linie individuelle Selbstbestimmung. Sie erwarten deshalb von der Politik, dass sie sich aus allem, was mit Werten (also auch mit Religion!) zu tun hat, komplett heraushält. Politische Entscheidungen (juristische natürlich auch) sollen weltanschaulich NEUTRAL getroffen und formuliert werden, damit keine der vielen Überzeugungen, die in modernen multikulturellen Gesellschaften anzutreffen sind, bevorzugt oder benachteiligt wird. In der Sprache der politischen Philosophie spricht man in diesem Zusammenhang vom Neutralitätsprinzip.
Die Religiöse Rechte - aber nicht nur sie! - ist dagegen der Meinung,
dass Freiheit gerade die Bindung an Werte braucht. Freiheit ohne Wertbindung
führt ihrer Auffassung nach zu Orientierungslosigkeit und macht dadurch
anfällig für totalitäre Tendenzen - ein Gedanke, den wir nicht
nur von religiös Konservativen kennen, sondern auch von sogenannten Kommunitaristen
bis zurück zu Alexis de Tocqueville, auf den sich die intellektuelleren
Kreise der Religiöse Rechte auch gerne beziehen. Die Bewegung will, dass
sich Politik an Werten orientiert, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen.
Das Spezifische an der Religiösen Rechten ist es, dass sie die christliche
Religion meint, wenn sie von Werten spricht - und zwar eine konservativ-protestantische
Lesart des Christentums. Hierin unterscheidet sie sich von den ebengenannten
Denkern, aber auch von heute politisch aktiven konservativen oder neo-konservativen
Kräften in den USA. Leute wie Dick Cheney, Paul Wolfowitz oder Donald Rumsfeld
- also engste Berater von George Bush jr. - haben zwar eine wertkonservative
und ökonomisch libertäre Grundhaltung; sie sind aber nicht religiös.
Man kann daher auch bei weitem nicht alle politischen Positionen des Kabinetts
Bush mit denen der Religiösen Rechten in Deckung bringen.
In den letzten 15 Jahren haben die politischen Organisationen der Religiösen
Rechten versucht, für ihre Ziele auch außerhalb der eigenen Reihen
größere Akzeptanz zu schaffen. Das drückt sich v.a. darin aus,
dass sie religiöse Elemente aus ihren politischen Argumenten zunehmend
ausgeblendet haben. Oben wurde das Neutralitätsprinzip im liberalen Denken
erwähnt. Interessanterweise folgen einige Organisation der Religiösen
Rechten diesem Neutralitätsgebot seit einigen Jahren bis zu einem gewissen
Punkt ebenfalls - immer dann, wenn sie öffentlich auftreten.
Konkret drückt sich das so aus, dass, wenn beispielsweise Christian Coalition
politisch für schärfere Abtreibungsregelungen eintritt, nicht damit
argumentiert wird, dass Abtreibungen gegen den Willen Gottes verstoßen
(bei Moral Majority war das in den frühen 80er Jahren noch der Fall), sondern
damit, dass Abtreibungen - oder auch bestimmte Abtreibungsverfahren - gegen
die verfassungsrechtlich garantierten Bürgerrechte des Kindes verstoßen.
Mit einer solchen verfassungsbezogenen - also weltanschaulich neutralen - Argumentation
bewegt sich die Religiöse Rechte perfekt innerhalb liberaler Vorgaben.
Das einzige Problem ist, dass so ein Argument natürlich eigentlich unvollständig
ist: Erst wenn ich ebenfalls argumentiere, dass ein Fötus ein Mensch bzw.
eine Person im Sinne der Verfassung IST, kann ich mich für seine Bürgerrechte
einsetzen. Dafür müsste ich aber zusätzliche, werthafte Argumente
bringen. Will ich gerade die Werte-Ebene bzw. die Religionsebene ausklammern,
funktioniert die gesamte Argumentation nicht. Ähnliche Probleme haben allerdings
auch liberale Politiker immer wieder; dies gilt nicht nur für die Religiöse
Rechte.
Von daher ist es wenig weiterführend, wenn liberale Kritiker der Religiösen
Rechten vorwerfen, sie sei verfassungsfeindlich. Ebensowenig führt weiter,
ihr vorzuwerfen, sie sei heuchlerisch, weil sie nur öffentlich mit der
Verfassung daherkommt, im Kreise der eigenen Anhängerschaft aber klar ihre
religiösen Motive zeigt (das tut sie, das zeigen Analysen der eigenen Blätter
eindeutig). Auch ein liberales Denken verlangt Wertneutralität immer nur
in öffentlichen Auseinandersetzungen - zu Hause, oder in der Kirche sind
Werte auch nach liberalen Vorstellungen zulässig.
Die einzig sinnvolle Art, der Religiösen Rechten zu begegnen, ist deshalb
die inhaltliche Auseinandersetzung - das heißt, eine Auseinandersetzung
über Werte.
Was würde dabei herauskommen, wenn die Religiöse Rechte so großen
Einfluss gewinnen würde, dass sie die amerikanische Gesellschaft nach ihren
Vorstellungen gestalten kann?
Grundsätzlich wäre das Ergebnis ein Staat auf der Grundlage der jetzigen amerikanischen Verfassung, der sich durchaus am Wert der Freiheit orientiert. Die Religiöse Rechte würde die Freiheitsrechte nicht abschaffen. Sie würde aber - und hier liegt der Unterschied zum Ist-Zustand, zumindest seit den 60er Jahren - immer dann, wenn es um die Auslegung der Verfassung geht, Bezug zu ihren religiösen Werten nehmen. Die Liberalen nehmen dagegen Bezug auf den Wert der Selbstbestimmung bzw. die Freiheit vor Indoktrination.
Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Man stelle sich vor, in einer Schulklasse sitzen bis auf ein oder zwei Ausnahmen ausschließlich Schüler mit einem ausgeprägten christlichen Glauben. Die Schüler, die Eltern und einige Politiker möchten, dass diese Schüler morgens Gelegenheit zu einem freiwilligen Gebet haben. Die 1 oder 2 anders- oder nichtgläubigen Mitschüler wären davon entbunden. Im amerikanischen Ist-Zustand hat das Anliegen keine Chance. Spätestens das Oberste Gericht würde urteilen, solches Beten verstieße gegen das Recht der Anders- oder Nichtgläubigen auf Selbstbestimmung, die Verfassung verbiete alle religiösen Handlungen in öffentlichen Schulen.
Könnte die Religiöse Rechte in dieser Sache entscheiden, sähe
das anders aus. Sie würde solche Gebete zulassen und dies damit begründen,
die amerikanische Verfassung verbiete die Einschränkung der freien Religionsausübung.
Beide Seiten betonen also die Verfassung und die Freiheitsrechte, kommen aber
zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen.
1. Die Bewegung wird weiter existieren, so lange es gesellschaftliche Entwicklungen gibt, die als Krise wahrgenommen werden - im Prinzip also unbegrenzt. In der sogenannten "Moderne" geht religiös-konservatives und fundamentalistisches Denken nicht unter, sondern bekommt sozusagen immer wieder neue Nahrung.
2. Inwieweit die Religiöse Rechte politisch aktiv bleibt, wird wesentlich davon abhängen, ob das religiöse Milieu dauerhaft politisch mobilisiert werden kann. Evangelikale Protestanten sind traditionell eher politikabstinent - es braucht schlagkräftige, effiziente Organisationen, um das politische Interesse hier zu erhalten. Ein entscheidender Punkt ist hierbei die Kommunikation: Gegenüber der Politik muss die Krisenwahrnehmung der Religiösen Rechten so vermittelt werden, dass sie möglichst breit verstanden werden kann, gegenüber der eigenen Trägerschaft muss die Notwendigkeit gewisser Kompromissleistungen so kommuniziert werden, dass sie nicht "abspringt" und das Interesse an Politik verliert ("Framing"Prozesse).
3. Der Einfluss der Religiösen Rechten wird immer dann potentiell größer
sein, wenn die Republikanische Partei die Regierung stellt und - wie zur Zeit
- nicht nur den Senat, sondern auch das Repräsentantenhaus dominiert. Das
heißt aber nicht, dass diese Konstellation automatisch dazu führt,
dass die Bewegung ihre Interessen durchsetzen kann oder wird. Zur aktuellen
Situation:
· Längst nicht alle, die momentan an der Regierung beteiligt sind,
stehen der Religiösen Rechten und ihren Zielen positiv gegenüber
· Auch bei George W. Bush gibt es gewisse Einschränkungen (Abtreibung,
Wahlkampf)
· Das politische System ist durch ein kompliziertes wechselseitiges Kontrollsystem
gekennzeichnet ("Checks and Balances"). Das macht es einer politischen
Interessengruppe (Partei oder Bewegung) so gut wie unmöglich, das Land
allein politisch zu dominieren
· Zu den anstehenden Neubesetzungen im Supreme Court: Die Regierung Bush
wird versuchen, hier konservativ zu besetzen. Den Berufungen gehen aber etliche
Anhörungen und Prüfungsverfahren voraus; es ist nicht so einfach,
einen Kandidaten oder eine Kandidatin durchzusetzen. UND: In der Vergangenheit
hat sich gezeigt, dass vermeintlich konservative Besetzungen des Obersten Gerichts
keineswegs auch zu verlässlich konservativen Urteilen führt. Spektakulärstes
Beispiel ist die Richterin Sandra Day O'Connor, die als Hoffnung der Religiösen
Rechten galt und dann in wichtigen Fällen zu Abtreibung und Schulgebet
liberal geurteilt hat.
Fazit: Die Religiöse Rechte wird es weiterhin geben, wirklich wirkungsträchtige
politische Erfolge hängen von einer Vielzahl begünstigender Faktoren
ab und sind auch in einer "republikanischen Ära" keineswegs garantiert
(s. auch Reagan). Man muss sich mit der Religiösen Rechten offensiv auseinandersetzen,
was aber nur möglich ist, wenn man auch die Werte-Ebene miteinbezieht.
Dr. Katja Mertin ist Politikwissenschaftlerin beim Hanse-Wissenschaftskolleg, Delmenhorst, und hat promoviert über "Die Religiöse Rechte in der amerikanischen Politik".