Was ist politisch an Kunst und Literatur der 90er ?

Anmerkungen anlässlich einer Veranstaltungsreihe
der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen e.V.

Von Susanne Gölitzer u. Mathias Fechter

 

Das Verhältnis von Politik und Kunst wird mal als Verhältnis zwischen Herrschern und Hofnarren, mal als Verhältnis von Planern und Erfüllungsgehilfen, mal als Nicht-Verhältnis beschrieben. Es lassen sich ganze Bibliotheken zu diesem Thema füllen und ganz sicher kann man nie sein, das letzte Wort dazu gesprochen zu haben. Sofern man Kunst und Literatur für ein Medium der Selbstverständigung einer Gesellschaft hält, kann man die Frage auch nie ganz für beantwortet halten. Im Veränderungsprozess von Gesellschaften muss Kunst und Literatur sich ebenfalls ändern, ihr Verhältnis zur Politik allemal.

Während die Nachkriegsliteratur sich nicht schelten lassen musste, sie sei unpolitisch und vernachlässige die Themen der Zeit, sehen sich die Literaten von heute diesem Vorwurf ausgesetzt. Andere sehen alle Ästhetik im Bereich der Nicht-Politik und lassen nur das als Kunst gelten, das möglichst unambitioniert daher kommt. Man müsste sich auf beiden Seiten mit angesehenen Autoritäten herumbalgen und käme doch wahrscheinlich wieder nur zu dem einen oder anderen Ergebnis: Literaten und Künstler äußert euch zu den zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Ereignissen! oder Literaten und Künstler "bleibt weg von offenen Fenstern" mit Aussicht auf die Politik!

Meist allen Positionen gemeinsam ist, dass Politik und Kunst in einer Art Dienstverhältnis zu stehen scheinen. Entweder leistet die Politik nicht genug für die schönen Künste oder die künstlerischen Hofnarren werden der Dienstverweigerung bezichtigt.

Will man also nicht in einen Diskurs der Dienstbarkeit eintreten, kann man zweierlei tun: erstens den Begriff Politik durch den des Politischen ersetzen und zweitens die Leute, von deren Arbeit immerhin hier die Rede ist, selbst befragen, was das Politische ihrer Arbeit sei. Wenn es stimmt, dass das Politische nicht mehr in erster Linie durch Parteien in den entsprechenden Institutionen repräsentiert wird, sondern vielmehr das Private, die Wirtschaft, die Wissenschaft, der Alltag Orte der politischen Auseinandersetzung geworden sind, dann müsste sich dies auch auf die Arbeit junger Künstler und Literaten auswirken. So gesehen würde dies auch einer häufig beklagten Entpolitisierung der Intellektuellen widersprechen.

Im Kern stellt man mit der Frage: "Was ist politisch an Kunst und Literatur der 90er?" also die Frage: "Was ist in den 90ern politisch?"

Eine Veranstaltungsreihe der Hessischen Gesellschaft für Demokratie und Ökologie in Frankfurt am Main, zu der junge Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Autoren an einen runden Tisch geladen wurden, hatte entsprechend zweierlei zum Ziel. Erstens die Lage des Politischen bei einer Generation nach 1968, nach der Friedensbewegung, nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus zu befragen. Zweitens die Stiftung für die Aus- und Einblicke von Kunst und Literatur zu sensibilisieren, welche nach Richard Rorty mit ästhetischen Mitteln die Ziele einer ehemals als Linke verstandenen politischen Orientierung formulieren: Gerechtigkeit und Verminderung von Leid. Durch das "Vokabular" einer solchen Kunst würden anders als mit wissenschaftlicher Methode oder durch politischen Diskurs Haltungen Einzelner geprägt und verändert. Auch wenn man von einer Krise der politischen Bildung nicht sprechen will, so scheint es dennoch sinnvoll, sich über andere Vermittlungsformen als die des politischen Diskurses Gedanken zu machen.

Bei der Veranstaltungsreihe handelte es sich um drei round table-Gespräche in Folge, an denen insgesamt 25 Künstlerinnen, Künstler und Autorinnen und Autoren teilnahmen. Es kristallisierten sich folgende Positionen heraus:

· Schreiben hat nichts mit Politik zu tun. Ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin ist nur als Bürger oder Bürgerin unter anderen Bürgern politischer Mensch.

· Mit der künstlerischen Arbeit soll etwas verändert werden. Mit den Mitteln der Kunst werden auch politische Inhalte transportiert.

· Durch künstlerische Netzwerke und gemeinsames Arbeiten an künstlerischen Projekten, die in der Planung, Konzeption und Ausführung oft nicht mehr nur eindeutig Kunst sind, sondern auch sozialen Zwecken dienen, wird künstlerisches Handeln aus der strengen Perspektive der Kunst heraus genommen und ist nicht mehr eindeutig zuzuordnen.

· Nicht die explizit politische Thematik macht das Politische eines Künstlers, einer Künstlerin aus, sondern vielmehr die ästhetische Gestaltung der Thematik und unter Umständen die Einbindung dieser Arbeit in Projekte. Alles ist politisch! Es kann also nicht unterschieden werden eine "unpolitische" von einer "politischen" Kunst, sondern eher eine "affirmative" von einer "kritischen" Kunst.

In einem zweiten und dritten round table-Gespräch wurden die Konturen des Politischen in Kunst und Literatur schärfer gezeichnet. Gleichwohl ist eine regelrechte politische Programmatik bei den meisten Künstlern und Dichtern nicht mehr auszumachen. Im Gegenteil: Wer mit dezidiert politischem Anspruch auftritt, sieht sich dem Vorwurf der Pädagogisierung ausgesetzt. Es scheint so etwas wie eine "generationstypische" Abgrenzung zu den "68ern" zu geben. Das Verhältnis zur Politik ist durch Interesse, nicht aber durch Leidenschaft geprägt. Trotzdem wird der Kunst durchaus eine politische Potenz zugestanden.

Diese politische Potenz wird auch in der Verweigerung des Machbarkeitsduktus und des Primats der Ökonomie gesehen. In Zeiten knapper Haushalte leidet die Politik an beidem. Jedes schlichte Denken über den Tag hinaus wird, so der Vorwurf, mit der Rede über die hohe Arbeitslosigkeit und den veränderten Weltmarktbedingungen totgeschlagen.

Kunst und Literatur haben - anders als die Politik - weniger mit Versprechungen und Realitätsplanungen als mit Einsichten zu tun. Der Blick auf die Welt durch Kunst und Literatur lässt immer zweierlei erkennen: einmal die Fragilität unserer Realität und zum zweiten unsere tendenzielle Begrenztheit durch die uns bekannte Sprache. Gleichzeitig wird eine bislang unbekannte Welt ans Licht gezerrt und ein neues "Vokabular" entwickelt, mit dem wir alle unsere Welten neu schreiben.

Durch die Sprache der Kunst können Zusammenhänge in ihrer Komplexität schneller deutlich werden als durch die analytische Sprache der Reflexion; manche Zusammenhänge werden gar erstmalig sichtbar. Dies kann daran liegen, dass Kunst und ihre Ausdrucksmittel nicht ausschließlich auf die intellektuellen Fähigkeiten ihrer Produzenten und Rezepienten setzen muss, aber auch daran, dass durch die Arbeit mit Ausdrucksmitteln Zusammenhänge neu konstruiert werden. Möglicherweise ist die Einsicht in die Notwendigkeit ökologischen Handelns "leichter" über Kunst und Literatur zu entwickeln als über rationale Argumentation oder gar Parteiprogramme. Dies nicht etwa weil Kunst und Literatur dieses ökologische Handeln zum Thema machte oder das Sujet "Ökologie" behandelte, sondern weil ökologisches Handeln erstmalig in den Horizont des Ausdruckes oder des Vokabulares gelangen kann.

Je weitläufiger die Kunst geworden ist, umso mehr sind Lebenswelten anderer Schichten, Kulturen und Länder in unseren Erfahrungshorizont getreten. Erst ab diesem Punkt können wir von Weltgesellschaft sprechen und so z.B. für die Rechte der unterdrückten Frauen in Afghanistan kämpfen. Wer viel liest und viel sieht, hat schon die Erfahrung gemacht, dass man mitunter mit absonderlichen Menschen konfrontiert wird, die man nie und nimmer kennen lernen würde oder kennen lernen wollte.

Das ist vielleicht die zivilisierende Funktion der Kunst. Durch sie lernen Menschen zwanglos Fremdes zu verstehen und mit Fremdem umzugehen. Sie dient der Selbstvergewisserung und der Selbst-Klärung. Das politische Selbstverständnis einer Gesellschaft hängt auch in hohem Maße von ihren Selbstbildern ab. Als ein solches Selbstbild kann gelten, wie tolerant mit Abweichungen von der Norm umgegangen wird, wie Scheitern Bestandteil der Biographie ist, wie die Erfahrung von Fremdheit integriert wird usw. Genau hierin liegt die politische Relevanz der Kunst.

Für die Arbeit einer politischen Stiftung lassen sich daraus drei Folgerungen ziehen:

1. Die Moral einer Gesellschaft wird nicht nur diskursiv bestimmt, obschon sie dem Diskurs zugänglich ist. Kunst, Literatur, Symbole und Mythen des Alltags halten gegenwärtige und vergangene Wertentscheidungen in "ganzheitlicher" Form fest. Zur Verständigung über diese Wertentscheidungen kann die Rezeption von Kunst und Literatur einen wichtigen Beitrag leisten.

2. Der Erfolg politischer Bildung hängt auch davon ab, wie Generationslagen und deren politische Implikationen erkannt werden.

3. Kunst und Literatur sind Vermittlungsformen mit relativ großer Reichweite, gerade weil sie sich nicht auf einen intellektuellen Diskurs reduzieren lassen. Ihr Potential könnte gewinnbringend für die politische Bildung erschlossen werden. Ohne Mut zum Experiment und der Bereitschaft, eingefahrene Wege der Bildungs- und Projektarbeit zu verlassen, wird dies allerdings nicht zu haben sein.